In all den Jahren, die er in den Llanos weilte, hatte man nichts von den Aimaràs wieder vernommen, sie mußten ihre Raubzüge nach der anderen Seite der Anden gerichtet haben. Der beiden jungen Leute, die er befreite, dachte er hie und da teilnahmsvoll, doch zweifelte er nicht, daß sie umgekommen seien. Ob er gleich ihre Namen nicht behalten hatte, waren doch von den Vivandas Erkundigungen nach einem vermißten jungen Caballero und einem Mestizen angestellt worden, doch ohne Resultat, was bei der dünnen Besiedlung des Landes und den weiten Entfernungen nicht verwundernswert war.
Aber noch andere Betrachtungen stellte der schweigsame Knabe an, als er nach und nach reifer wurde. Ließen Äußerungen der Aimaràs ihn schließen, daß weiße Leute bei dem Untergange seiner Familie beteiligt sein mußten, so schwächte das Verhalten des alten Gomez diesen furchtbaren Verdacht nicht ab. Er wußte auch von den sehr vorsichtigen Vivandas, daß er als der Abkömmling und Erbe seines Vaters mächtige Feinde habe, und der Name de Valla, den ihm der sterbende Gomez warnend zurief, war fest in sein Gedächtnis eingeschrieben.
Er kannte durch seine Erzieher die Geschichte seines Heimatlandes, den langen Unabhängigkeitskampf der Kolonien gegen die spanische Macht unter Bolivar, dem Befreier, und die nach dem Tode dieses hervorragenden Mannes folgenden Bürgerkriege, die zu neuen Staatenbildungen führten. Er wußte, daß sein Vater im Dienste des Landes tätig gewesen, und daß der zur Zeit mächtigste Mann des Staates de Valla hieß -, war dieser der Feind, den er zu fürchten habe? Es mußte wohl sein, den warum sollte er, Alonzo, seinen Namen verborgen halten?
Er war entschlossen, dieser Frage endlich auf den Grund zu sehen.
Gleichaltrige Freunde hatte der Jüngling nicht.
Sein ganzes Wesen war zu abgeschlossen und unzugänglich - fast hart -, um Geschmack am vertrauten Umgang mit den jungen Leuten, die er kennen lernte, zu finden. Er hatte zu früh die Hand des ehernen Schicksals gefühlt, um nicht mit tieferem Ernste in das Leben zu sehen als sie, die unter dem sorgsamen Schutze liebender Eltern aufgewachsen waren.
Aber trotzdem erfreute er sich der Zuneigung der Altersgenossen, mit denen er in Berührung gekommen war; seine ruhige vornehme Art, die doch weit von jeder Überhebung entfernt war, gewann ihm die Herzen und seine Vorzüge wurden neidlos anerkannt.
An den Brüdern Vivanda hing Alonzo mit dankbarer Liebe, besonders an dem milden Cura, aber sein Herz ging nur Elvira gegenüber auf, die er bewunderte und mit der innigen Zärtlichkeit eines Bruders liebte. Doch auch ihr zeigte er nicht den düstern Haß, der in der Tiefe seiner Seele schlummerte, ein Dämon, der nur leichter Herausforderung bedurfte, um seine ganze Gewalt zu entfalten. Elvira war eine zu sonnige, milde Erscheinung, als daß in ihrer Gegenwart nicht jeder finstere Gedanke verscheucht worden wäre. Nur der Cura ahnte, daß in der Seele des schweigsamen Jünglings dieser Dämon der Rache schlummerte, und suchte durch Lehre und Beispiel ihn zu bannen. Doch war es unmöglich, auf des Jünglings Antlitz seine Gedanken zu lesen, wenn er sie verbergen wollte; die Schule, die er unter den Wilden durchgemacht, wirkte nach.
Was wird die Zukunft bringen, welche Aufgaben hat dir die Vorsehung vorbehalten?
Unter diesen Gedanken sank auch er endlich in Schlaf.
Früh am Morgen begann wieder die aufregende Tätigkeit der Vaqueros und Llaneros.
Alonzo, der erkannte, daß seine Anwesenheit nicht notwendig war, ritt weiter nach Norden zu, um vielleicht ein jagdbares Tier zum Schusse zu bekommen, und war auf seinem feurigen Rosse in der durch einzelne Haine und Waldstreifen unterbrochenen Ebene den Hirten bald aus dem Gesicht.
Nichts wollte sich dem forschenden Auge zeigen, auf das er seine Büchse hätte richten können, und so hatte er sich einige Leguas von seinen Leuten entfernt, als er, während er langsam einherschritt, zu seiner Überraschung die Abdrücke eines Menschenfußes vor sich sah. Er hielt und betrachtete sie aufmerksam. Es war nicht der Fuß eines Llaneros gewesen, der hier dahingeschritten war, er hatte die Einprägung eines Schuhwerks vor sich, wie es in der Stadt von vornehmen Leuten getragen wurde. Er wunderte sich darüber, wie auch, daß er nirgends einen Pferdehuf abgedrückt sah; in die Llanos kam man doch nur auf dem Rücken eines Reittieres und wohl sehr selten in den Stiefeln der Städter. An dem Tau, der auf der Spur lag, erkannte er, daß sie von gestern stammen mußte.
Langsam ritt er daneben her und erkannte an den unsicher geführten Schritten, daß der Mann sehr erschöpft gewesen sein müsse. Allein? Ein Stadtbewohner, allein, ohne Pferd in den Llanos?
Er schaute sich um und erkannte, daß die Spur zu einem kleinen Gehölze führte, das unweit von ihm lag. Ihr folgend ritt er darauf zu. Bald traf sein Auge auf eine menschliche Gestalt, die am Rande des Gehölzes zwischen den Farnen lag. Er war zu sehr Jäger und von zu guter indianischer Erziehung, um, obgleich in den Llanos weder mordlustige Indios noch räuberisches Gesindel zu fürchten waren, nicht eifrig den Saum des Gehölzes mit scharfem Auge zu durchforschen und seine Büchse schußfertig zu machen.
Aber nichts Verdächtiges bot sich dem Blicke, auch keine weitere Spur weder von Tier noch von Mensch.
Er ritt langsam näher.
Da lag ein Jüngling in seinen Poncho eingewickelt, mit geschlossenen Augen, bleich von Angesicht.
Alonzo hielt und schaute in die sanften Züge des jungen Menschen. Schlief er oder war er tot? Er lag ganz regungslos.
Alonzo stieg ab und befühlte die Stirn. Sie war warm - auch die Brust hob sich -, der junge Mann lebte.
Das Gesicht des Schlafenden hatte etwas ungemein Einnehmendes, trug aber die Spuren der Erschöpfung, des Leidens.
Alonzo berührte seine Schulter und schüttelte ihn etwas.
Der Fremde schlug die Augenlider auf und schaute wie ein Träumender um sich.
Endlich haftete sein Blick auf Alonzos Gesicht, das sich mit dem Ausdruck der Teilnahme über ihn beugte.
Mit sichtlicher Anstrengung richtete der Fremde sich etwas empor, immer noch sah er aus wie ein von tiefem Schlafe Erwachender. Dann aber zeigte sein Blick, daß er die Umgebung und den, der neben ihm kniete, erkannte.
"Ich bin verirrt in dieser schrecklichen Wüste," sagte er mit matter Stimme, "ich glaubte, das Licht der Sonne nicht wieder zu sehen, als ich mich gestern hier niederlegte. Hast du etwas zu essen?"
Alonzo führte etwas Mundvorrat mit sich, reichte dem Fremden seine Flasche, die kalten Kaffee enthielt, und ein Stück Maisbrot.
Begierig aß und trank dieser.
Alonzo betrachtete die zarte schlanke Gestalt, den modischen Sommeranzug, der unter dem Poncho sichtbar war, und den eleganten Reitstiefel des Verirrten, und schaute dann wieder wohlgefällig in sein Gesicht.
Endlich fragte er: "Auf welche Weise kommen Sie nur hierher, Sennor?"
Der junge Mann, dem das bescheidene Frühstück sichtlich wohlgetan hatte, musterte jetzt den vor ihm Sitzenden und Alonzo schien ihm zu gefallen.