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Das Wunder geschah! Wo eben noch die kleine Maus war, lag jetzt die riesige Hexe. Ein tiefer Schlaf hatte sie erfaßt, aus dem sie erst in fünfzig Jahrhunderten erwachen sollte. Der Riese dankte den Tieren für ihre Hilfe, und diese zogen sich schnell in ihre Wälder und auf ihre Felder zurück. Als Hurrikap nachdenklich die Schlafende ansah, hörte er plötzlich eine schwache Stimme. Er kniff die Augen zu, um besser zu sehen, und gewahrte einen Zwerg auf der Brust der Hexe. Es war Antreno, ein Männchen mit grauem Bart, das zu Hurrikap sagte: „Mächtiger Herr! Du hast unsere Gebieterin eingeschläfert, und wir wagen es nicht, deinen Willen zu bestreiten: Arachna hat wirklich viel Böses getan. Doch zu uns war sie gut, und wir möchten nicht, daß Schakale und Hyänen ihren Körper zerstückeln. Erlaube uns, sie in die Höhle zu tragen und sie dort zu pflegen, bis der Tag kommt, an dem sie wieder erwacht." Hurrikap lächelte:

„Ihr seid gute kleine Menschlein, und ich lobe euch für eure Sorge. Macht mit eurer Herrin, was ihr wollt, ich hatte gar nicht die Absicht, sie zu töten, wollte sie nur daran hindern, Böses zu tun."

Hurrikap ging zurück in sein Schloß, und die Zwerge machten sich unter der Führung Antrenos an die Arbeit. Trotz ihres kleinen Wuchses, waren sie geschickte Meister. Einige von ihnen fertigten einen langen Wagen an, während andere das steinerne Ruhelager in der dunklen Ecke der Höhle herrichteten und mit einer dicken Schicht frischen Mooses bedeckten. Danach machten sich Hunderte Zwerge, Ameisen gleich, am riesigen Körper der schlafenden Herrin zu schaffen. Sie hoben ihn mit Flaschenzügen und Hebeln auf den Wagen, brachten ihn in die Höhle und betteten ihn dort mit viel Mühe auf das Lager. Die Zwerge wußten nicht, wie lange Arachna schlafen würde, und deshalb sorgten sie dafür, daß alles bereitstehe für die Stunde ihres Erwachens. Am Kopfende des Lagers stand ein Faß mit Wasser, das oft ausgewechselt wurde, damit es nicht verderbe. Alle drei Tage wurden auf Spießen ein paar Ochsen gebraten, denn es bestand kein Zweifel, daß die Herrin beim Aufwachen Hunger verspüren würde. Da Fleisch aber nicht lange frisch bleibt, aßen es die Zwerge alle paar Tage selbst auf und ersetzten es jedesmal durch neues. Im Ofen lagen immer frische Semmeln. Um es kurz zu sagen: Wann immer die Hexe auch erwachen würde, sie sollte keinen Grund haben, sich über ihre Diener zu beklagen. Geschlechter von Zwergen lösten einander ab, die böse Hexe aber lag unverändert in ihrem Zauberschlaf. Hurrikap war nicht der Mann, der Beschwörungen in den Wind streute. Einmal in hundert Jahren, wenn das blaue Gewand Arachnas schon fadenscheinig war, spannen die kleinen Frauen Garn, webten Stoff daraus und nähten ein neues Kleid, das ihre Männer, die Zwerge, mit großer Mühe über den leblosen Körper der Hexe zogen.

Wie die unermüdlichen Wächter auf Sauberkeit in der Höhle achteten! Boden, Decke und Wände wurden täglich gefegt und jede Woche gewaschen. Mücken, Fliegen und Spinnen, die in die Höhle eindrangen, wurden erbarmungslos vernichtet, Mäuse und Ratten mit Schmach verjagt. Zu Häupten der Schlafenden hing ein Fächer, den ein Zwerg Tag und Nacht bewegte, damit die Luft um Arachna niemals stillstehe. Es war die Fürsorge der treuen Zwerge, die es bewirkte, daß Jahrhundert um Jahrhundert spurlos an Arachna vorüberging, die auf ihrem weichen Lager genau so rotbäckig und frisch ruhte, wie in dem Augenblick, als Hurrikap sie eingeschläfert hatte. Während der Jahrhunderte hatten die Zwerge die Umstände vergessen, unter denen die Hexe eingeschlafen war, und sie meinten, sie habe schon immer so dagelegen und werde so bis ans Ende der Welt weiterschlafen. Die Pflege ihrer Person hatte sich in einen Kult verwandelt, der streng befolgt wurde. Die geringste Abweichung von diesem Kult wurde als Sünde angesehen und von den Ältesten hart bestraft. Es war, als stünde die Zeit in der Höhle still, obwohl sie sich in der großen Welt jenseits der Berge ständig veränderte. Die Menschheit war vom steinernen Werkzeug zum bronzenen und dann zum eisernen übergegangen. Auf den Meeren führen Segelschiffe. Die griechischpersischen Kriege waren längst vorbei, römische Legionen marschierten durch das eingeschüchterte Europa und zertrampelten alles, was in ihrem Weg lag. Die Epoche der mittelalterlichen Barbarei begann und ging wieder zu Ende, Kolumbus entdeckte Amerika, und die Gefährten Magellans umschifften als erste unter den Seefahrern die Welt. Luftballons stiegen in den Himmel auf, der erste Raddampfer furchte die Gewässer, die erste, noch plumpe Lokomotive zog ulkige kleine Waggons über stählerne Gleise...

Die Hexe aber lag immer noch da in ihrem tiefen Schlaf. Im Zauberland floß die Geschichte langsam und eintönig dahin. Stämme winziger Menschlein lösten einander ab, es entstanden und zerfielen winzige Staaten, die sich für den Nabel der Welt hielten, königliche Dynastien kamen auf und gingen unter. Das alles verfolgten die Zwerge, die Untertanen der Arachna, sehr genau. Unsichtbar trieben sie sich im Lande herum, spionierten, horchten und merkten sich alles. Der vorsorgliche Hurrikap hatte den Völkern des Zauberlandes das Geheimnis der von ihm erfundenen Schriftsprache verraten, noch lange bevor sie in der großen Welt bekannt wurde, und die Zwerge machten davon Gebrauch, indem sie Chronik führten. Die Kundschafter erzählten den Männern, die jeweils das Amt von Chronisten versahen, alle Neuigkeiten, und diese schrieben sie sorgfältig auf Pergamentrollen, die das kleine Volk mit viel Geschick aus Kalbshaut herzustellen wußte. Diese Rollen häuften und häuften sich und füllten schließlich einen ganzen Schrank. Sie enthielten einen wahrheitsgetreuen

Bericht über alles, was sich in den Jahrtausenden des Zauberschlafs Arachnas ereignet hatte.

Die Zwerge verhielten sich zu der Chronik wie zu einem Heiligtum, und wenn eine abgeschlossene Rolle in den Schrank gelegt wurde, wagte es niemand mehr, sie anzurühren. So lagen die Rollen viele Jahrhunderte ungenutzt da.

Die HEXE ARACHNA

DAS ERWACHEN

Es war ein ungewöhnlicher Tag im kleinen Staat der Zwerge. Der Morgen verlief wie gewöhnlich, doch um die Mittagszeit erschütterte ein seltsamer Lärm die Höhle. Einigen kam er wie ein sehr lauter Seufzer vor, anderen wie ein Windstoß oder wie das Gebrüll eines riesigen Tieres. Die Luft in der Höhle geriet in Bewegung, und mehrere Lichter erloschen. Von der Decke fielen kleine Steine, und das Echo des unerklärlichen Lärms drang ins Freie und versetzte die Umgebung in Aufregung. Die Zwerge, die sich im Tal befanden, liefen so schnell sie konnten zur Höhle, aus der ihnen die erschreckten Wachen entgegenstürzten. Verständnislos fragte man einander: „Hast du gehört? Was soll das bedeuten? Ist das vielleicht Weltuntergang?"

Nur der weise Kastaglio, der Älteste der Zwerge und ihr Chronist, erriet, was geschehen war. Er erhob den Zeigefinger und rief mit feierlicher Stimme:

„Unsere Herrin erwacht!"

Kastaglio hatte recht. Das seltsame Gepolter hatte das Gähnen der erwachenden Hexe verursacht. Dem ersten Gähnen folgten ein zweites und dann noch eins, und von dem Gedröhn erloschen die restlichen Lichter, zerbrachen die kleinen Tische, Stühle und Bettchen der Zwerge und knackte es unheimlich in den Wänden der Höhle. Endlich war Arachna wach. Ein schlafender Mensch merkt nicht den Lauf der Zeit, und der Hexe schien es, als sei sie ebenerst den zahllosen Tieren entronnen, die der mächtige Hurrikap auf sie gehetzt hatte. Nur verstand sie nicht, wohin die Tiere verschwunden waren und warum sie, Arachna, auf dem Ruhelager in ihrer Höhle lag. Sie rief: „Hallo, ist jemand da? Er komme herein!"