Doch alle diese unüberwindlichen Schwierigkeiten schreckten ihn nicht ab. Einer so heftigen Leidenschaft als der seinigen dünkte nichts unmöglich. Hört, ich bitte euch! Hört mit bekümmerten Herzen, welch einen entsetzlichen Weg seine rasende Liebe einschlug!
Eines Tages nahm ihn Tlepolem mit sich, als er Wild zu jagen ausging, wofern man anders Rehe Wild nennen kann; denn andere, mit Hauern oder Hörner bewehrte Tiere ließ Charite aus Besorgnis ihren Gemahl nicht aufsuchen. Schon war der Hang eines dicht mit Wald bewachsenen Hügels mit Netzen umstellt, und die Jäger gingen auf den Anstand; man ließ die Spürhunde los, das im Lager liegende Wildbret aufzutreiben. Stracks verteilten sich diese allenthalben durch das Dickicht, und wie wohl sie abgerichtet waren, jagten sie mit heimlichen Gekläff, bis sie Witterung aufnahmen. Nun wurden sie laut, daß weit umher der ganze Forst vom heftigsten Gebell erscholl.
Kein flüchtiges Reh stand vor ihnen auf, kein schüchternes Dammtier, keine vor anderen Tieren zahme Hindin; aber ein gewaltiger Keiler, den man noch nie da gesehen hatte. Seine hangende Wamme, dick mit Kot gepanzert, gleich einem Bären über und über zottig; hoch die Borsten des Rückens gesträubt, schäumte er vor Wut, fletschte die Zähne und drohte Gefahr aus feuerflammenden Augen. Wie ein Blitzstrahl fährt er unter die Hunde, die sich ihm am kühnsten genaht, haut rechts, links um sich her mit seinen gekrümmten Gewehren, und sie liegen tot am Boden gestreckt. Nun rennt er gerade gegen das Zeug an, stürzt es im ersten Anlauf nieder, und davon, und ins Freie!
Wir alle waren schier verscheucht. Keiner anderen als gefahrlosen Jagden gewohnt und noch dazu ohne Waffen, ohne Schutz, stoben wir auseinander und verkrochen uns, so gut wir nur konnten, hinter Gesträuchen und Bäumen; allein dem Thrasyll dünkte dies die schönste Gelegenheit zur Ausübung hinterlistiger Anschläge.
›Ei!‹, rief er dem Tlepolem zu, ›wir werden uns doch nicht die Schande antun und, gleich den feigen Memmen da, vor Furcht und Schreck eine so fette Beute uns entwischen lassen? Unsere Pferde her! Wir müssen nach! Nimm du einen Jagdspieß, ich nehme eine Lanze!‹
Gesagt, getan. Sie sitzen zu Pferde und sprengen hinter dem Eber her; dieser, seiner angeborenen Stärke eingedenk, stand und schien in weilender Wut zu überlegen, welcher von beiden seinen mörderischen Zahn zuerst empfinden sollte.
Tlepolem flog vorauf und schloß mit seinem Jagdspieße den Eber in den Rücken. Unterdessen richtete mein Thrasyll seine Lanze anstatt nach dem Keiler nach dem Pferde des Tlepolem und schneidet demselben die Hessen ab. Das Pferd sank sogleich, als es sich verwundet fühlte, mit dem Hinterteile nieder und warf wider Willen seinen Reiter ab. Wie dieser fiel, saß der Eber auf ihm und zerfetzte erstlich seine Kleider, als er aber aufstand, ihn selbst auf das jämmerlichste.
Nun freute der Busenfreund sich der gelungenen Tücke und hütete sich wohl, sich von der großen Gefahr zum Mitleid rühren zu lassen. Vielmehr, indem der arme Tlepolem in Todesangst sich vor den Wunden zu decken sucht und ihn erbärmlich um Hilfe anruft, rennt er ihm seinen Spieß durch die rechte Hüfte, damit er ja auf der Stelle bliebe. Er tat es mit aller Zuversicht, da er wußte, daß diese Wunde von den Hieben des Ebers nicht zu unterscheiden sein würde. Darauf nahm er es mit dem Schweine auf, und nachdem er es mit leichter Mühe erlegt, rief er uns allesamt aus unseren Schlupfwinkeln hervor und verkündete uns den Tod unseres armen Herrn. In größter Bestürzung und Betrübnis liefen wir hinzu.
Thrasyll, ungeachtet er sich in seinem Herzen freute, daß er glücklich den Mord vollbracht, den er sich angelobt, wußte dennoch seine Freude zu verstellen und eine ernste, betrübte Miene anzunehmen. Er warf sich auf die Leiche hin, die er selbst gemacht hatte, und umarmte sie inbrünstig; unterließ nichts, was der erste heftige Schmerz zu tun pflegt. Nur weinen, das konnt’ er nicht!
Da er in seinem erdichteten Leide der Wahrheit des unsrigen so ganz gleichkam, so ließ sich niemand einfallen, ihn wegen des Mordes in Verdacht zu haben, und wir glaubten ihm auf sein Wort, daß der Eber unsern Herrn erschlagen habe.
Kaum war dies Unglück geschehen, so trug das Gerücht auch schon die traurige Nachricht davon nach Tlepolems Wohnung, zu den Ohren seiner unglücklichen Gattin.
Sobald diese die entsetzliche Nachricht vernommen, fährt sie halb sinnlos in wilder Hast auf, stürzt wie eine Rasende vollen Laufs durch die volkreichen Gassen, läuft querfeldein, laut schreiend über das Unglück ihres Mannes. Scharenweise und traurig strömen die Leute hinter ihr her; wer ihnen begegnet, gesellt sich und seinen Schmerz zu ihnen. Die ganze Stadt wird darüber leer.
Bereits war man zum Orte gelangt, wo Tlepolems Leichnam lag. Mit scheidender Seele sank Charite auf denselben nieder und wollte da ihr Leben aufgeben, da sie ihrem Tlepolem geweiht. Mit Not ward sie noch von den Ihrigen hinweggerissen und wider Willen beim Leben erhalten.
Man nahm die Leiche auf und brachte sie im Geleite des ganzen Volkes nach dem Begräbnis.
Da hattet ihr den Thrasyll sehen sollen, wie überlaut er schrie, wie er sich zerschlug; die Tränen, die ihm bei Bezeugung der ersten Betrübnis versagt waren, flossen ihm nun, vermutlich vor immer zunehmender Freude. Allerlei Namen der Liebe wurde von ihm verschwendet, die Wahrheit zu hintergehen; unter dem kläglichsten Leidwesen rief er beständig:
›O mein Tlepolem! Mein Freund, mein Gespiele, mein Kamerad, mein Bruder!‹
Ja, zuweilen fiel er Charite in die Arme und hielt sie ab, sich den Busen zu zerschlagen; beschwor sie, ihre Trauer zu mäßigen und nicht so zu weinen, suchte durch liebreiches Zureden den Stachel des Schmerzes zu stumpfen und sie durch allerlei herbeigezogenen Beispiele ähnlicher Zufälle zu trösten. Dabei vergaß er nicht, unter dem Scheine der innigsten Teilnahme an ihrem Verluste das schöne Weib aufs vertraulichste zu liebkosen, um seiner häßlichen Leidenschaft durch diese ungebührliche Lust Nahrung zu geben.
Allein nach vollbrachtem Leichenbegräbnisse wünschte die junge Witwe nichts sehnlicher, als ihrem Manne recht bald nachzufolgen.
Sie bedachte bei sich alle Mittel dazu und wählte endlich jenes sanfte, ruhige, das keines Gewehrs bedarf, sondern dem stillen Schlaf ähnlich ist: das Verhungern.
Bleich, verfallen, sich gänzlich vernachlässigend, saß sie hin in tiefer Finsternis und hatte schon abgerechnet mit dem Leben. Doch Thrasyll ruhte nicht. Mit den dringendsten Bitten stürmte er auf sie ein, lag unablässig durch ihre Freunde, durch ihre Eltern ihr in den Ohren. Sie mußte nachgeben und ihren vor Mattigkeit, Totenblässe und Vernachlässigung entstellten Körper durch Bad und Speise wieder erquicken. Sie tat es aus Ehrfurcht vor ihren Eltern; machte aus Not eine Tugend und unterzog sich – zwar nicht mit fröhlichem, jedoch mit heiterem Gesicht – den Verrichtungen der Lebendigen, so wie man es verlangte. Allein in ihrem Innern nagte Harm und Betrübnis ihr beständig am Leben. Tag und Nacht hing sie der zärtlichsten Sehnsucht unter unaufhörlichen Tränen nach. Ja, sie hatte ihren Verstorbenen unter der Gestalt des Bacchus gebildet, und stets stand sie vor ihm und erwies ihm göttliche Verehrung. Das war ihr einziger schmerzlicher Trost.
Thrasyll konnte es nicht erwarten, daß sich ihr Schmerz ausgeweint, der Sturm ihrer Seele gelegt und die höchste Betrübnis durch die Länge der Zeit sich verloren hätte. Aus Übereilung und Unbesonnenheit stand er nicht an, sich ihr zur Ehe anzutragen, da sie noch ihren Gemahl beweinte, noch ihrer Kleider zerriß, noch sich die Haare zerraufte. Der einfältige Schritt deckte alle Geheimnisse seines Herzens auf und verriet sein heilloses Spiel.
Charite schauderte mit Abscheu vor dem schändlichen Antrag zurück, und nicht anders, als ob die Pest sie angehaucht oder der Strahl des Jupiters sie getroffen hätte, sank sie ohnmächtig nieder, und die Sinne vergingen ihr. Nach einer Weile kam sie zwar wieder zu sich selbst und erhob ihr jämmerliches Klagegeschrei von neuem; indessen, die Augen waren ihr nun über den abscheulichen Thrasyll aufgegangen.