Am nächsten Tag packte mich die Müdigkeit mit einer Stärke wie nie zuvor. Ich schleppte mich zum Bett und merkte im Eindämmern gerade noch, daß ich naß vor klebrigem Schweiß war...
Als ich erwachte, fühlte ich mich seltsam leicht und befreit. Mit einiger Verwunderung merkte ich, daß ich die Wand rechts neben dem Bett und links das ganze Zimmer bis zum Boden hinunter sah, ohne die Augen bewegen zu müssen. Ich richtete mich auf... Zugleich mit der Verwunderung über ein fremdes Körpergefühl überkam mich fassungsloses Staunen: Ich blickte an meinem Körper entlang – ich war kein Mensch mehr oder zumindest nicht mehr das, was man unter einem Menschen zu verstehen pflegt. Ich hockte auf langen Heuschreckenbeinen, meine Arme liefen in Flügel aus, meine Haut war blau und weiß gefiedert.
Es ist ein wunderbares Gefühl, sich in die Luft abzustoßen, der Schwere zu trotzen, sich emporzuschwingen, die Welt tief unten zu sehen. In die Freude darüber mischt sich aber stets die Trauer um Mac und um das Furchtbare, was ich ihm angetan habe. Ich habe den Gemeinschaftsraum nie mehr betreten. Er war wohl der erste Mensch, der seine Entwicklung vollendete.
33
Vergangenheit und Zukunft
Für die Menschen ist die Zeit ein Ablauf. Es gibt ein Vorher, Jetzt und Nachher. Dadurch unterscheidet sie sich vom Raum, dessen Punkte alle gleich gegenwärtig und erreichbar sind. Die moderne Physik hat Zeit und Raum verflochten. Ihre Vorgänge spielen sich in einem räumlich-zeitlichen Kontinuum ab, in dem es keine ausgezeichnete Gegenwart gibt. Alles, was jemals war, was ist und was sein wird, ist gleich gegenwärtig.
Ich sitze in meinem Pilotensitz und zugleich laufe ich den Weg zum Gebäude der Golyten entlang. Ich blicke auf die Menschenmenge unter mir, als ich die Luke schließe – darin für einen winzigen letzten Augenblick das blasse Gesicht Mauds –, und zugleich rufe ich verzweifelt nach dem Arzt, als mich kurz vor der Landung das Raumfieber packt. Ich sehe die Golyten ans Raumschiff kommen und uns aus der Erstarrung befreien, weil sie uns für harmlos halten, und zugleich höre ich Jack, der mir stammelnd berichtet, daß die Expansionsgeschwindigkeit des Weltraums in den letzten Tagen so rapide zugenommen hat, daß es fraglich scheint, ob unser Antrieb für die Rückkehr ausreicht.
Alles strudelt durcheinander, alles ist wirr und unverständlich, alles mischt sich, Wichtiges und Unwichtiges, Heiteres und Trauriges, Vergangenes und Zukünftiges. Erst allmählich gelingt es mir, mich auf ein kontinuierliches Zeitband zu konzentrieren und darüber klarzuwerden, was geschieht...
Da ist er wieder, der Schreck über die Worte Jacks. Um mich habe ich keine Angst. Aber Maud ist so ungeheuer fern und wartet. Wir prüfen die Berechnungen Jacks und finden unsere Befürchtungen bestätigt. Wir müssen sofort starten, und selbst dann ist fraglich, ob wir gegen den sich vergrößernden Abstand erfolgreich anlaufen können.
Das bedeutet mindestens zwei Jahre Ungewißheit. Zwei Jahre zwischen Hoffnung und Zweifel. Zwei Jahre, in denen ich jede Minute Angst haben muß, Angst, Maud nie wiederzusehen.
Ich denke gleich an die Golyten. Für sie gibt es keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, alles was je geschieht, ist ihnen gleich gegenwärtig. Aber sie kümmern sich nicht um uns, sie geben uns weder Antwort noch Hilfe. Ich erinnere mich aber an die Bibliothek, an deren Durchsicht uns niemand gehindert hat. Für die Golyten hat sie offenbar Museumswert. Vielleicht verhilft sie mir aber zu einem Ausweg. Ich fürchte mich vor nichts, nur vor der Ungewissen Zukunft, die mir bevorsteht. Während die Kameraden den Start vorbereiten, suche ich Literatur über die Zeit. Nach einer halben Stunde finde ich, was ich brauche. Nach einer weiteren halben Stunde habe ich die Anlage aufgebaut, die diese kleine Eigentümlichkeit unseres Gehirns beseitigt, stets nur einen kleinen Ausschnitt aus der Zeit ins Bewußtsein zu heben. Ohne Zögern schalte ich das Feld ein.
Ich sitze im Pilotensitz. Ist es zu Beginn oder gegen Ende der Reise, die fast drei Jahre dauert? Was sind drei Jahre? Eine Koordinatendifferenz. Zugleich schließe ich Maud in die Arme. Wenn ich ihren Körper an meinem spüre, ist es gleichgültig, ob es Abschied oder Wiedersehen ist. Vielleicht ist sie das junge Mädchen, das ich – ohne die Kälte zu beachten – an einem stürmischen Winterabend zum erstenmal küsse, vielleicht die alte Frau, die sich gebrechlich zu mir herüberbeugt. Aber neben dem Glück ist stets das andere gleich gegenwärtig. Jahre des Alleinseins und die Abgründe an den Enden meines Lebens. Es gibt keine Hoffnung mehr, nur Gewißheit. Jetzt weiß ich aber, daß es gerade die Hoffnung ist, die unserem Leben den Sinn gibt.
34
Erwachen
Voll Tatendrang trat er hinaus in die Welt, von der er alles erhoffte. Doch ihm blieb nichts zu tun übrig. Er kam zu spät.
Das erste, was ich bemerkte, war Licht. Die Eindrücke sammelten sich: Glimmlampen, Meßinstrumente, ein Prüfstand, ein Raum – 18 m lang, 6 m breit.
Dann erlebte ich den köstlichen Augenblick, in dem mir die Möglichkeit bewußt wurde, mich bewegen zu können. Ich versuchte Schritte und kam bis zur Wand. Ich drehte mich um 90° und ging weiter. Wieder stand ich an einer Wand. Ich entdeckte, daß ich auch schief zu den Hauptrichtungen vorwärtskam. Mit Vergnügen lief ich kreuz und quer im Raum herum.
Meine Wahrnehmungen verbanden sich nun mit Informationsmaterial, das in meinem Kopf gespeichert war. Ich konnte denken. Eine wundervolle Tätigkeit! Aus den Seheindrücken abstrahierte ich die Reihe der voneinander unabhängigen Eigenschaften, versuchte sie durch Zahlen zu erfassen, verband diese miteinander und kam zu Ergebnissen, die sich – was für ein angenehmes Gefühl! – durch Beobachtungen an der Umgebung bestätigen ließen.
Das letzte, das ich bemerkte, war, daß es etwas gab, was ich wollte und mußte. Beides war aber dasselbe. Da gab es eine Aufgabe, einen Sinn. Mein Gehirn und die Kraft meiner Glieder, die Empfindlichkeit meiner Sinnesorgane, die Fähigkeit, Wahrnehmungen aufzunehmen, sie mit meinem Wissen logisch zu verbinden und danach zweckentsprechend zu handeln, waren eine Einheit, ein geschlossener Kreis von Impuls und Funktion, der mir ein geregeltes Leben ohne das geringste Unbehagen verhieß. Meine Aufgabe lautete: den Menschen zu dienen.
Ich trat durch die Tür, bereit, die Situation aufzunehmen. In Bruchteilen von Sekunden würde ich sie analysiert haben und wissen, was für Handlungen notwendig wären, die den Menschen zugute kämen...
Vor mir lag eine Landschaft aus Metall – Räder, Streben, Maschinenteile, Drähte, die meisten verbogen, manche glühend, fast alle radioaktiv. Krater gähnten, Gebäude lagen plattgedrückt am Boden, Schienen ragten in die Luft. Fahrzeuge lagen aufgerissen, Möbel zerbrochen, Bücher zerfetzt. Flammen schlugen aus zersplittertem Holz, Rauchschwaden krochen den Boden entlang.
Die Welt sah anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte. Mich störte die Unordnung. Was mich aber verrückt machte: Ich sah keinen Menschen.
Ich lief weiter und suchte. Ich war lange unterwegs. Ich fand keinen Menschen.
Schon einige Male versuchte ich in meinem Kopf zu erforschen, was mir meine Programmierung in diesem Fall vorschreibt. Irgend etwas aber dürfte mit mir nicht in Ordnung sein. Sooft ich mir diese Frage stelle, erfaßt mich ein Schwindel und mein Kopf wird heiß. Ich muß wohl weitersuchen.
Ich hätte nie gedacht, daß ein Roboter so unglücklich sein kann.
35
Anklage