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Danach nahm er die Schreibarbeit nicht mehr auf, sondern tigerte im Zimmer herum wie im Zwinger. Dann rief er seinerseits jemanden an, sprach lange, schwieg, redete wieder lange und hörte sehr abrupt auf. Als er das Zimmer verließ, kroch ich aus dem Labyrinth der Bäume heraus und fiel dabei fast über einen abgebrochenen Ast. Es gewitterte. Ich machte mich endlich auf den Heimweg; es war spät, und ich war ganz durcheinander.

Ich nahm in diesen Tagen ab, obgleich ich das schon lange nicht mehr nötig hatte, ich schlief schlecht, hatte bläuliche Ringe und, wie ich fand, viel mehr Falten unter den Augen, mich quälten Wallungen, von denen ich bisher verschont geblieben war. Im Büro saß ich unkonzentriert vor meiner Arbeit, machte keine Überstunden mehr und hatte Mühe mit Formulierungen. Dem Chef entging das nicht. Freundlich stellte er fest, die Krankheit von Frau Römer gehe mir wohl sehr nahe.

»Sie sind ein vorzüglicher Psychologe«, sagte ich so herzlich, wie ich konnte, und er lächelte geschmeichelt.

Am Wochenende ging ich mit Beate einkaufen. Sie sollte mich beraten. Das wurde allerdings schwierig. Am Ende hatte sie zwei schillernde Blusen bei C&A gekauft, ein Babyjäckchen fürs drohende Enkelkind, einen Hosenrock im Ausverkauf und merkwürdige Schnabelschuhe. Ich hatte ein veilchenblaugeblümtes teures Sommerkleid erstanden und gleich anbehalten, das einzige Stück, auf das wir uns hatten einigen können.

Auf der Straße trafen wir zwei Männer, Beate kannte ja Gott und die Welt. Anscheinend hatte ihr Mann früher einmal ein Haus für sie gebaut. Der eine war Graphiker, der andere Einkäufer für ein Kaufhaus. Wir gingen einen Espresso trinken, und Beate flirtete ungeniert mit den beiden. Überhaupt hatte ich den Eindruck, daß sie seit ihrer Scheidung nicht gerade wie eine Nonne lebte, aber sie erzählte mir nichts darüber, wahrscheinlich aus Taktgefühl. In meinem schönen Kleid, mit von Kaffee geröteten Wangen und dem neuen, überdrehten Gefühl im Bauch entdeckte ich auf einmal, daß ich durch bedeutungsvolles Lächeln, gurrendes Lachen und intensives Wimperngeklappere auch beachtet wurde. Mein Gott, warum hatte ich das nicht dreißig Jahre früher kapiert.

Als die Männer weg waren, sagte Beate: »Das ist ein wahnsinnig nettes Paar, sie leben seit zehn Jahren zusammen.

Mit denen läßt sich wunderbar quatschen. Übrigens habe ich neulich was über diesen Rainer Engstern gehört.«

Am liebsten hätte ich gebrüllt: »Warum sagst du mir das nicht gleich!« Und dann der Schreck: War er etwa schwul, weil Beate ihn in diesem Zusammenhang erwähnte? Ich hätte diese flirtfreudigen Männer niemals richtig einordnen können, darin hatte ich keine Erfahrung.

»Also, paß auf«, begann Beate, »die Lessi hat eine Freundin, die Eva, die ist mit einem Sohn vom Engstern befreundet.«

»Und wie ist er?« fragte ich sofort.

»Weiß nicht, wahrscheinlich ein netter Junge, macht gerade Zivildienst.«

»Also, ich meinte doch den Vater!«

»Ja, der ist Lehrer in Ladenburg (das habe ich auch schon rausgekriegt, dachte ich), die Schüler nennen ihn ENGSTIRN, aber er ist ganz beliebt, meint Lessi. Sie war nämlich mal dort.«

»Und die Mutter?« fragte ich.

»Ach ja«, bedeutete mir Beate, »irgend etwas stimmt da nicht, sie ist angeblich schon lange verreist.«

Mehr wagte ich nicht zu fragen, aber innerlich tat ich einen Freudensprung. Da stimmt was nicht! Ganz ausgezeichnet, dann war mein Witold vielleicht zu haben.

Zu Hause war ich wieder von Zweifeln geplagt. Und wenn er nun wirklich zu haben war, ob er dann ausgerechnet mich haben wollte, vorausgesetzt natürlich, wir würden uns überhaupt kennenlernen. Ich stand jetzt so oft vor dem Spiegel wie in den ganzen letzten zwanzig Jahren nicht. Ich besah mich kritisch. Ob ich mich im Gesicht liften lassen sollte, obgleich ich so etwas immer verachtet hatte? Er war neunundvierzig und sah unerhört gut aus — Männer in diesem Alter, so hört man immer wieder, bevorzugen nicht gerade Frauen in meinem Alter.

Abends hatte ich jetzt ein festes Programm: In der Dämmerung versuchte ich mit dem Dieskau meinem Traummann zu begegnen. In der Dunkelheit kroch ich ohne Hund in seinem Garten herum — übrigens nur noch in dunklen Hosen; wie ein Einbrecher hatte ich eine Art Berufskleidung angezogen. Darüber hinaus wählte ich manchmal seine Telefonnummer, allerdings aus Ängstlichkeit nie von meinem Apparat aus (ich hatte zu oft von Fangschaltungen gelesen), sondern aus einer Zelle. Ich hörte ihn dann seinen Namen sagen, manchmal mit heiterer Stimme, manchmal müde. Ich legte immer sofort auf und wußte, er ist zu Hause, sitzt vielleicht am Schreibtisch. Einmal prallte ich wieder, allerdings in voller Absicht, fast mit seinem Fahrrad zusammen. Er lächelte wieder, wie beim ersten Mal, und sagte mit seiner atemberaubenden Stimme: »Guten Abend, immer ganz in Gedanken, nicht wahr?«

Ich lächelte zurück, konnte aber leider nichts Kluges oder Schlagfertiges entgegnen.

Nach zwei Wochen wurde Frau Römer entlassen, und ich brachte ihr den Dieskau zurück. Halb war ich froh, halb traurig, daß ich nun keinen Gefährten mehr hatte. Aber warum sollte ich nicht auch ohne Hund abends Spazierengehen? Frau Römer hatte noch etwas auf dem Herzen: Sie sollte schon bald in Kur gehen, und da gab es schon wieder das Hundeproblem. Ihre Schwester hatte eine Allergie gegen Tierhaare, ihre Tochter war für ein Jahr in den Staaten. Klar, ich erklärte mich sofort bereit, den Hund weitere vier Wochen zu beherbergen.

An diesem ersten Abend ohne den Dieskau ging ich nicht mehr weg. Es war auch allerhand liegengeblieben, was ich in diesen zwei Wochen nicht erledigt hatte. Mein kleiner Haushalt war fast ein wenig verlottert, meine Wäschetruhe war voll bis zum Rand, ich mußte mir dringend eine Haarpackung auflegen, eine pflegende Gesichtsmaske einwirken lassen. Aber ich hatte das Gefühl einer Süchtigen, die sich nur mit äußerster Willensanstrengung zurückhalten kann, das Ziel ihrer Begierden aufzusuchen. Ich alte Scheune brannte.

Am nächsten Tag fuhr ich aber wieder los, ohne Hundebegleitung. Es dämmerte, als ich an Witolds Haus vorbeikam, ein zweites Auto stand vor der Tür. Besuch! Mich erschreckte der Gedanke, Beates Tochter Lessi, die ja schon einmal mit ihrer Freundin hier gewesen war, könnte zufällig da sein und mich sehen. Aber es wäre schon ein großer Zufall; der Wagen sah jedenfalls nicht nach jungen Leuten aus, viel zu spießig. Ich lief in Ladenburg herum, bis es vollkommen dunkel war. Inzwischen kannte ich mich gut aus. Im Schutze der Nacht trat ich die zweite Runde an. Wie letztes Mal kroch ich auch wieder in der Apfelplantage herum, bekam Dreck in die Augen und erlebte mein laut pochendes Herz als Zeichen einer neuen Lebendigkeit. Ja, es war Besuch da. Offensichtlich nicht der Sohn, sondern eine Frau. Die große Glastür stand offen, und man konnte Gesprächsfetzen verstehen. Ob es seine Frau war? Gebückt, ja fast auf allen vieren, schlich ich noch ein wenig näher. Die Fremde mochte Anfang Vierzig sein, sah aber schlecht aus. Sie war mager, schwarzhaarig, hatte ein interessantes, aber durchaus nicht schönes Gesicht. Auf einer melonengrünen Bluse trug sie einen auffälligen orientalischen Schmuck. Sie rauchte pausenlos, und Witold schien sich auch schon viele Zigaretten angesteckt zu haben. Ich hasse dieses Gequalme. Wäre ich seine Frau, hätte er sich das längst abgewöhnt. Eine leere Weinflasche rollte auf dem Boden, gegen die die Frau einmal aggressiv mit den Füßen trat, eine angebrochene stand auf dem Tisch, zwei halbvolle Gläser daneben.

Witold sprach wenig und immer nur sehr leise, so daß ich ihn überhaupt nicht verstehen konnte. Aber die Frau schrie mit fast hysterischem, schrillem Diskant. Auf einmal wußte ich, was mit ihr los war: klar, eine Alkoholikerin. Nicht, daß sie direkt betrunken war, aber ich hatte den Abstieg einer trunksüchtigen Tante meine ganzen Jugendjahre über hautnah mitgekriegt, und mir war, als wäre sie hier wieder auferstanden.

Sie war wohl wirklich seine Ehefrau. Soweit ich verstehen konnte, machte sie ihm schwere Vorwürfe und gab ihm die Schuld am Scheitern der Beziehung. Einmal konnte ich auch Witold deutlich hören: