Er nahm mir diesen absolut lächerlichen Teil meiner Garderobe aus der Hand, ließ sich auf einen Stuhl plumpsen, breitete die Krawatte über seinem Schenkel aus und fing an, sie zu binden. »Kurt bekam den Knoten auch nie hin. Das heißt, er konnte es schon, machte es aber nicht gern. Deshalb hat er immer mich dazu gezwungen.«
Dieses »gezwungen« gab mir zu denken. »Wart ihr eigentlich Freunde?«
»Wir beide? Hm, ja, schon. Schließlich waren wir Partner…«
Ich bohrte nicht weiter nach. Len hatte die Krawattenschlinge vorbereitet und half mir jetzt, sie über den Kopf zu ziehen.
Kritisch betrachtete er mich. »Ja, das geht«, meinte er. »Es sieht natürlich komisch aus, aber das liegt daran, dass du für einen Senior noch reichlich jung bist…« Len stockte und sah mir streng in die Augen. »Bist du wirklich ein Senior, Danka?«, fragte er.
Für einen Rückzieher war es jetzt zu spät. »Natürlich. Weshalb fragst du?«
»Lügner werden bei uns nämlich umgebracht.« Er lächelte zaghaft. »Deshalb… ich hatte Angst um dich.«
Entzückend! Mit einem Mal begriff ich, dass hier trotz der grellen Lampen und des heißen Wassers noch finsterstes Mittelalter herrschte.
»Bei uns drückt man schon mal ein Auge zu«, brachte ich mit einem Lächeln hervor. »Klar, wenn du beim Lügen erwischt wirst, musst du zusehen, wie du deinen Kopf wieder aus der Schlinge ziehst, aber…«
»Gehängt werden bei uns nur Verräter«, sagte Len. »Lügner werden mit dem Schwert getötet.« Er blickte zur Seite, zögerte, fügte dann aber doch hinzu: »Und Feiglinge auch.«
»Behauptet denn jemand, du wärst ein Feigling?«
»Du hast mich doch zum Partner gewählt«, antwortete Len. »Also hast du dich dafür verbürgt, dass ich kein Feigling bin.«
Ah ja. »Und das konnte ich tun, weil du für mich gebürgt und mir Schutz versprochen hast«, meinte ich, nachdem ich kurz nachgedacht hatte. »Stimmt’s?«
»Mhm.«
»Na, großartig. Wenn sich da die Katze nicht in den Schwanz beißt!«
Len stand da wie ein Häufchen Elend.
»Sag mal, kommen wir nicht zu spät?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
»Ach du wild gewordener Flügel!«, schimpfte Len in einer mir völlig unverständlichen Weise. »Jetzt aber los.«
Wir stürmten aus dem Haus. Len beschrieb mir rasch, wie ich vom Club aus wieder nach Hause kam. Da ich nicht genau verstand, was diese Erklärung sollte, fragte ich nach: »Du bist doch auch im Club. Wieso gehen wir dann nicht zusammen nach Hause?«
»Ich gehe doch in den Juniorclub«, sagte Len verblüfft. »Dieses Moskau muss eine seltsame Stadt sein, bei euch ist alles ganz anders.«
»Das stimmt«, bestätigte ich, obwohl ich in meinem Leben noch nie in Moskau gewesen war.
»Soll ich vielleicht am Eingang auf dich warten?«, schlug Len vor. »Ich könnte ja früher aus dem Juniorclub losgehen…«
»Nicht nötig, ich finde den Weg schon«, sagte ich tapfer. Je mehr ich von dieser Gesellschaft mitbekam, desto weniger gefiel sie mir. Es herrschte eine Ordnung wie in der Armee, wenn nicht sogar wie im Gefängnis. Dazu noch die ewige Düsternis und die leeren Straßen! Puh!
»Da ist euer Club!« Len wies mit dem Finger auf ein riesiges Gebäude auf der anderen Straßenseite. Zu dem Haus gehörte ein hoher Turm, sodass es wie eine orientalische Moschee aussah. »Unserer liegt zwei Blocks weiter, in der Straße, die links abgeht. Wie sieht’s aus, kommst du allein zurecht?«
»Klar.«
»Und ich soll nachher bestimmt nicht auf dich warten?«
»Hör auf damit, Len!«, fuhr ich ihn an. Sofort gab er klein bei, schüttelte mir verunsichert die Hand und rannte die Straße hinunter. Er hatte es ziemlich eilig, vermutlich kam er bereits gewaltig zu spät.
Bevor ich das Gebäude betrat, nahm ich die Brille ab und blieb kurz davor stehen, um in der Dunkelheit die Straße hinunterzuspähen. Aus keinem einzigen Fenster fiel auch nur der schwächste Lichtschein, die Umrisse der Häuser erahnte ich nur, sehen konnte ich sie nicht. Ich suchte ich den Himmel rundum nach einem leuchtenden Punkt ab: nach dem Sonnenkater. Aber da war nicht der kleinste Lichtpunkt. Schließlich holte ich tief Luft und stieß die Tür zum Club auf.
Drinnen sah es genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein Saal mit Tischen, Stühlen und einer Theke wie in einer Bar. Es waren rund dreißig Leute anwesend, alle noch jung, so etwa zwischen fünfzehn und zwanzig. Bei meinem Auftauchen verstummten die Gespräche, alle Blicke richteten sich schlagartig auf mich.
Nach kurzem Zögern steuerte ich die Bar an. Ob man hier zahlen musste? Hinterm Tresen stand ein vielleicht siebzehnjähriger Junge, der sich inmitten all der Flaschen und Kannen langweilte. Er war sehr blass und mager, doch das hielt ich inzwischen für ein allgemeines Charakteristikum in dieser Gegend.
»Einen Wein?«, fragte er lächelnd.
Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass ich mich jetzt betrinke! Ich schüttelte den Kopf. »Einen Saft.«
»Mehr nicht? Und was für einen?«
»Egal.«
Achselzuckend goss er eine grellgelbe Flüssigkeit in ein hohes Glas. »Moment mal!«, rief er plötzlich. »Du bist doch der neue Senior, den unser Junior Len mitgebracht hat!«
»Ja«, sagte ich zögernd. Ob das eine Falle war?
»Hervorragend!« Der Barkeeper band sich die Schürze ab, auf die orangefarbene Blumen gedruckt waren. »Dann übernimmst du meinen Posten. Das ist bei uns nämlich so üblich. Vergiss nicht, den Boden zu wischen, nachdem alle gegangen sind, und…«
Ich ließ den Blick durch den Saal schweifen. Offenbar genossen alle Anwesenden das Intermezzo.
»Hab schon bessere Witze gehört«, meinte ich mit dem freundlichsten Lächeln und trat vom Tresen weg. Schweigend band sich der Barkeeper die Schürze wieder um – also hatte ich genau richtig reagiert.
»Danka!«
Als ich mich nach der Stimme umdrehte, entdeckte ich Shoky, der zusammen mit zwei anderen Jungen an einem Tisch beim Kamin saß. Alle drei wirkten wie um die zwanzig, was hier wohl das Höchstalter war. Sie sahen ziemlich mager aus. Einer rauchte eine lange Zigarette. Der Tabak roch seltsam, eher süßlich und überhaupt nicht wie sonst der eklige Qualm.
Wie hatten die wohl meinen Namen rausgekriegt?
»Setz dich zu uns!«, rief Shoky.
Mir fiel kein Grund ein, warum ich die Einladung hätte ablehnen sollen. Deshalb ging ich zu ihrem Tisch hinüber und setzte mich auf einen freien Stuhl, genau gegenüber von Shoky.
»Wie gefällt dir unser Club?«
Ich zuckte bloß die Achseln.
»Und die Stadt?«
Jetzt lächelte ich.
»Also, ein Plappermaul bist du wirklich nicht«, sagte Shoky. »Aber keine Sorge, Danka, ich pass schon auf, dass dich niemand beleidigt. Du bist nämlich noch sehr jung… äußerlich zumindest… darin besteht das Problem.«
»Ich weiß«, erwiderte ich, da es mir schwerfiel, weiter den großen Schweiger zu mimen. »Aber das wird sich ändern.«
»Das wird es, leider«, seufzte Shoky. »Du solltest dir aber nichts auf deine Figur einbilden, Danka. Nimm zum Beispiel mich, ich habe mich absolut damit abgefunden, dass ich höchstens noch ein halbes Jahr fliegen werde. Gnat und Alkk…« Er blickte zu den beiden anderen hinüber. »… sind sich ebenfalls darüber im Klaren. Obwohl sie alles tun, um ihr Gewicht zu halten. Aber dein Auftauchen hat natürlich viele neidisch gemacht. Du bist schon Senior in deinem Team, wirst aber noch viele Jahre fliegen. Ihre Zeit dagegen läuft ab.«
Endlich machte es bei mir klick. Die Flügel nutzten Erwachsenen nichts. Deshalb trugen in dieser Stadt nur Kinder und Jugendliche diese Dinger, um damit zu fliegen und gegen die Monster der Finsternis zu kämpfen.