Es gab hier Städte, in denen Menschen lebten. Diese Menschen hatten Flügel, mit denen sie gegen die Freiflieger kämpfen konnten. Die Flügel waren aber nur für Jugendliche geeignet. Deshalb waren es die Jugendlichen, die kämpfen mussten. Klang das logisch? Absolut.
Aber was machten dann die Erwachsenen? Offenbar gingen sie weniger heldenhaften Beschäftigungen nach: Sie bauten Häuser, hüteten Vieh, bestellten Felder… Das heißt: Was wollten sie hier säen, wo es doch kein Licht gab? Andererseits: Das Gras und die Bäume schafften es ja auch, irgendwie zu wachsen. Vielleicht hatte sich also auch der Weizen angepasst? Ich guckte mir eines der Wurstbrote von allen Seiten an. Das Brot sah völlig normal aus.
Okay, also weiter. Wer profitierte von dieser Situation? Wer hatte das Sagen? Die Freiflieger? Irgendwie schien man hier in dieser Stadt keine sonderliche Angst vor ihnen zu haben. Verließen die Flügelträger allerdings die Stadt, riskierten sie, getötet zu werden, das immerhin wusste ich schon. Der Krieg zwischen ihnen steckte aber irgendwie in der Sackgasse, das sprang sofort ins Auge. Man bräuchte also nur mit den Freifliegern zu reden und eine friedliche Lösung zu finden. Für diese Vermittlungsaufgabe war ich absolut geeignet, denn ich kam aus einer anderen Welt und betrachtete alles mit einem frischen Blick.
Mir blieb keine Gelegenheit, mich an meinen fundierten und optimistischen Schlussfolgerungen zu freuen, denn die Tür flog auf und Len stürmte ins Haus.
»Ist dir jemand auf den Fersen?« Automatisch setzte ich mich ordentlich hin.
»Mir? Nein, ich habe mich nur beeilt.« Len kam an den Tisch und setzte sich neben mich. »Ich bin in euerm Club vorbeigegangen, aber du warst schon weg. Ich habe mir Sorgen gemacht, du könntest dich verlaufen haben… Gab es im Club irgendwelche Probleme, Danka?«
»Warum fragst du?«
»Weil mich alle so… so merkwürdig angestarrt haben.« Len erschauderte. »Gab es Streit?«
»Ja.«
»Mit wem?«
»Leider hat er sich mir nicht vorgestellt. Und nach unserer Auseinandersetzung war ihm offenbar die Lust vergangen, sich mit mir zu unterhalten.«
»Klasse!« Len strahlte über beide Backen. »Ich wusste ja, dass wir beide als Team unschlagbar sind!«
Als ihm klar wurde, dass er sich verplappert hatte, sagte er kein Wort mehr.
»Und du, Len? Wirst du auch für uns einstehen?«, fragte ich ihn ganz offen. »Weißt du, ich fliege… nicht gerade toll. Auf festem Boden fühle ich mich wohler. Wenn wir also Schwierigkeiten mit den Freifliegern kriegen…«
»Danka!«
»Len, die anderen haben mir…«
Er senkte den Blick.
»Die anderen haben mir gesagt, ich würde einen Riesenfehler machen, wenn ich dich zum Partner nehme.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Dass du mein Partner bist.«
Len biss sich auf die Lippe. Er machte den obersten Knopf an seinem Hemd auf. Anscheinend wusste er nicht, wohin mit seinen Händen. »Gib mir eine Chance, Senior«, bat er. »Ich werde mir auch Mühe geben, dich nicht zu verraten.«
Diese Erklärung förderte meinen Optimismus nicht gerade. Gleichzeitig schämte ich mich jedoch auch dafür, wie sehr ich Len in die Ecke gedrängt hatte. Ich beugte mich vor und berührte seine Schulter. »Schon gut, Junior, versuchen wir’s miteinander«, sagte ich. »Aber jetzt gehe ich schlafen. Ist das Zimmer deines alten Partners rechts oder links im Flur?«
»Links.«
»Gut, dann nehm ich das. Bis morgen!«
Len sah mir nach, wie ich die Treppe hinaufstieg, sagte jedoch kein Wort. Ich betrat das Zimmer, das jetzt mir gehörte, und schaute mich verlegen um. Noch vor ein paar Tagen hatte hier jemand anderes gelebt, der dann den Freifliegern in die Hände gefallen war. Pech gehabt. Jetzt war das Zimmer frei, sollte es sich nehmen, wer wollte.
Der Raum war groß, es gab aber kaum Möbel. Wie im Erdgeschoss hingen dunkle Gardinen vorm Fenster. Mitten im Zimmer stand ein breites Bett mit einer dicken Zudecke. Sofort beschloss ich, es morgen zu verrücken, denn ich schlafe nun mal gern an der Wand. Dann gab es noch einen Schrank, in den ich jedoch nicht reinschaute, und Waffen, die an der Wand aufgehängt waren. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, griff nach einem kurzen, nur fünfzig Zentimeter langen Schwert und betrachtete es von allen Seiten.
Ein gutes Stück – nahm ich zumindest an. Woher sollte ich etwas von Stichwaffen verstehen? Schließlich hängte ich die Klinge an ihren Platz zurück, kroch unter die Decke und klatschte in die Hände, eine Geste, die mir schon in Fleisch und Blut übergegangen war. Das Licht erlosch.
»Gute Nacht«, sagte ich zu mir selbst und schloss die Augen. Ich war hundemüde. An diesem Tag war einfach zu viel passiert. Schon im nächsten Moment schlief ich ein.
Ich hatte einen Traum. Einen Albtraum, in dem sich alles verhedderte, was geschehen war, nachdem ich durch die Verborgene Tür gegangen war. Ich träumte, ich würde durch die Düsternis stolpern, ganz allein und nackt. Unter meinen Füßen spürte ich kaltes Felsgestein. Irgendwann sah ich nach unten und erblickte einen tiefen Abgrund, an dessen Boden ein Schwarzes Feuer brannte. Ich aber marschierte durch die Luft, ohne runterzufallen. Im Traum wunderte ich mich überhaupt nicht darüber, sondern lief einfach weiter. Plötzlich hörte ich Flügel schlagen und vor mir tauchte ein Wesen der Finsternis auf. Als ich stehen blieb, kam das Monster langsam auf mich zu. Da erkannte ich sein Gesicht.
»Len?«, flüsterte ich.
Len nickte. Er breitete seine Flügelarme aus, als ob er mir sagen wollte: Tut mir leid, dass es so gekommen ist.
»Aber du hast doch gesagt, du würdest mich nicht verraten«, sagte ich und spürte in meiner Hand ein Schwert. Genau das, das in meinem Zimmer an der Wand hing. Len langte mit der Hand in die Dunkelheit, die ihn wie ein Gewand einhüllte, und zog aus ihr ein Schwert hervor. Ganz langsam und mit einem quietschenden Geräusch tauchte die Waffe aus der Finsternis auf. Die Klinge wuchs immer weiter, das ekelhafte Geräusch verstummte nicht…
Ich wachte auf.
Und hörte, wie Krallen an der Holztür kratzten. Sofort war ich in kalten Schweiß gebadet. Ich klatschte in die Hände, um das Licht anzuschalten, sprang aus dem Bett und riss das Schwert von der Wand. Die Kälte des Metalls in meinen Händen verband Traum und Wirklichkeit. Ich baute mich an der Tür auf, hob das Schwert und drückte mit der linken Hand die Klinke runter.
Die Tür öffnete sich gehorsam. Im Flur war niemand. Unter der Tür des anderen Zimmers schimmerte Licht durch, also schlief Len noch nicht. Wie angewurzelt stand ich da und starrte in die Leere. Als etwas meine nackten Füße berührte, verlor ich die Kontrolle über mich und schrie los.
»Danka…«
Vor mir saß der Sonnenkater. Aber wie er aussah! Ich erkannte ihn kaum wieder, so hatte er sich verändert. Das Fell leuchtete kein bisschen mehr, sondern war einfach rot. Die Augen blickten stumpf und er war mager wie der allererbärmlichste Straßenkater. Ich bückte mich und nahm ihn auf den Arm.
»Du dummer Junge«, flüsterte der Kater. »Immerhin bist du so klug gewesen, für dich eine anständige Unterkunft zu finden…«
»Was ist mit dir?«, presste ich mit Mühe heraus. »Was ist denn los?«
»Hier gibt es keinen Tag, Danka«, fuhr der Kater fort, ohne auf mich einzugehen. »Hier gibt es nirgendwo Wahres Licht. Ich kann dich nicht nach Hause zurückbringen.«
»Das weiß ich doch. Aber… was ist denn mit dir?«
»Ich sterbe«, verkündete der Kater mit überraschendem und unangemessenem Stolz. »Hier gibt es kein Wahres Licht. Ist dir klar, was das heißt? Ich werde verhungern.«
Ich drückte ihn gegen meine Brust, setzte mich auf den Fußboden und fing an zu weinen. Was konnte ich tun? Wo fand ich Wahres Licht? Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich Len, der auf meinen Schrei hin in den Flur gestürmt war und uns verblüfft anstarrte. Ich hörte, wie erschöpft der Kater hechelte, wie meine Tränen auf den Boden tropften, wie Len auf dem kalten Boden von einem Fuß auf den anderen trat.