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»Flieg mit mir!«, flüsterte er. »Komm mit, du bist einer von uns!«

»Nein«, brüllte ich. »Verpiss dich!«

»Du wirst schon noch kommen!«, stieß der Freiflieger hervor und schoss nach unten. Im Sturzflug gewann er an Tempo, irgendwann breitete er die schwarzen Flügel aus und glitt über die Berge davon.

»Das darf nicht wahr sein!«, schrie Len, als er mit mir auf einer Höhe war. »Was hast du dir bloß dabei gedacht, Senior?«

»Aber er ist doch ein Mensch!«

»Er kommt aus der Finsternis! Er ist ein Diener der Finsternis!«

»Er ist genau wie du und ich! Er ist ein Mensch!«

»Das kostet uns beide den Kopf«, sagte Len mit schwacher Stimme. »Danka…«

Über sein Gesicht liefen Tränen. Sofort dachte ich wieder logisch. Konnte ein Diener der Finsternis etwa nicht wie ein Mensch aussehen? Eben!

»Ich hab’s genau gesehen!«, schrie jetzt einer der beiden Flügelträger aus dem anderen Team. »Du hast ihn entkommen lassen! Du bist ein Verräter!«

Es war der Junge, der genauso alt war wie Len und ich. Sein Senior, der schon schwerer und langsamer war, blieb hinter ihm zurück.

»Ich kann das erklären!«, schrie ich. Aber niemand hörte mir zu. Jetzt erreichte uns auch der Senior. Es war der Junge, mit dem ich mich gestern Abend geprügelt hatte. Das erstaunte mich nicht im Geringsten. Schließlich kommt ein Unglück selten allein.

»Spielst du mit dem Gedanken, abzuhauen?«, fragte er. In der Hand hielt er eine Armbrust.

»Bestimmt nicht!«, antwortete ich, wobei ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Ich kann das alles erklären.«

»Da bin ich aber gespannt! Cheky, flieg in die Stadt! Es sollen alle zum Platz kommen und sich am Galgen versammeln!«

Cheky glaubte anscheinend felsenfest daran, dass sein Senior mich und Len in die Tasche stecken konnte, und flog los in die Stadt.

»Und jetzt setzt euch in Bewegung!«, kommandierte mein Feind. »Beide! Und du, Len, wirst dich gesondert zu verantworten haben.«

Wir kehrten zur Stadt zurück. Unterwegs flog Len zu mir heran. »Ich werde versuchen, ihm die Armbrust zu entreißen«, flüsterte er. »Ich bin schnell, ich schaff das. Dann fliehen wir.«

»Wohin denn?«, entgegnete ich nur. »Keine Angst, uns passiert schon nichts.«

»Bist du sicher?«, fragte Len mit leiser Hoffnung.

»Nur Mut, Junior!«

Ich hatte vor, ihnen die Wahrheit zu sagen. Dass ich aus einer anderen Welt kam, wie ich Len getroffen hatte und wie ich den Freiflieger angegriffen hatte und völlig verstört gewesen war, als ich gesehen hatte, dass er ein Mensch war wie wir selbst.

Erst als wir über der Stadt bereits zum Landeanflug ansetzten, begriff ich: All das durfte ich auf gar keinen Fall sagen. Unter keinen Umständen. Mir würden sie vielleicht noch verzeihen. Aber Len, der mein Geheimnis vor ihnen verborgen hatte, würden sie töten.

In diesem Moment wollte ich nur noch abhauen. Inzwischen hatte uns jedoch ein Dutzend Flügelträger eingekreist, sodass es idiotisch gewesen wäre, zu fliehen – noch dazu bei meiner geringen Flugerfahrung. Wir landeten mitten auf dem überfüllten Platz, auf dem einzigen freien Fleckchen. Daraufhin gingen auch die anderen Flügelträger runter – allerdings mitten in der Menge.

»Mir war von Anfang an klar, was das für ein mieser Typ ist!«, rief unser Aufpasser. »Und ich hatte recht! Heute hat dieser… Senior… einen Freiflieger entkommen lassen! Womit müssen wir da erst morgen bei ihm rechnen?«

Die Menschen auf dem Platz sagten kein Wort. Es waren Senioren und Junioren gekommen, Mädchen und Erwachsene. Okay, Erwachsene gab es nicht so viele. Alle schauten mich an, als ob…

Mir wurde angst und bange. Wie willst du Menschen etwas erklären, die dich hassen und schon vorab ihr Urteil gefällt haben?

»Womit müssen wir morgen bei ihm rechnen?«, wiederholte Cheky. »Mit gar nichts, denn wir rechnen heute mit ihm ab!«

Er lachte aus vollem Hals über seinen Witz. Durch die Menge steuerte Shoky auf mich zu. Die Leute traten sogar zur Seite, offenbar galt er was in dieser Stadt.

»Weshalb hast du das gemacht, Danka?«, fragte er scharf.

Da ich schwieg, hetzte der Senior, dem ich gestern eins verpasst hatte, weiter. »Der Fall ist doch klar: Entweder ist er ein Feigling oder ein Verräter! Ich glaube, er ist ein Verräter.«

»Halt den Mund!«, fuhr Shoky ihn an. »Danka! Was ist passiert?«

Als ich ihm in die Augen sah, wurde mir klar: Shoky gab mir eine Chance. Zumindest versuchte er es.

»Meine Augen«, stammelte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Meine Augen! Ich habe manchmal… Probleme mit den Augen… dann sehe ich plötzlich schlecht. Ich bin zu dem Freiflieger geflogen und mit einem Mal habe ich die Orientierung verloren! Danach war er schon auf und davon.«

Mir war plötzlich eingefallen, was wir vor Klassenarbeiten zusammenfantasierten: Mir tut der Kopf weh, ich hab Magenkrämpfe, hab mir den Finger ausgerenkt… In der Schule klappte das immer.

»Blödsinn!«, schnaubte der Senior und richtete seine Armbrust auf mich.

Aber Shoky wies ihn mit einer energischen Geste in seine Schranken. Dann wandte er sich an Len: »Hast du davon gewusst?«

Len schüttelte den Kopf. Und ihm fiel prompt noch mehr ein. Alle Achtung! »Nein, ich hab das nicht gewusst. Aber irgendwas war mit Dankas Augen. Er hat immer wieder angehalten und sie gerieben…«

»Glaubt seinem Junior nicht, der ist selbst ein Feigling!«

»Halt die Schnauze, Iwon!«, blaffte Shoky in scharfem Ton. »Unmöglich ist das nicht. Das Wort von Danka und seinem Junior steht gegen das von dir und das von deinem Junior. So kommen wir nicht weiter.«

Seltsamerweise steckte Iwon den Anschiss, ohne mit der Wimper zu zucken, weg. »Ein Flügelträger muss bereit sein zum Flug und zum Kampf«, sagte er, und es klang, als zitiere er die Worte aus einem Buch. »Und wenn ihm die Hand versagt, hackt ihm die Hand ab, und wenn er ein Signal überhört, schneidet ihm die Ohren ab… Erinnerst du dich noch an die Regeln für den Patrouillenflug, Shoky?«

Dieser nickte. Ich verstand zwar nichts von alldem, beschloss aber, die Klärung des Problems gar nicht erst abzuwarten. Ich wollte einfach wegfliegen – und sehen, wie weit ich kam.

Bevor ich meinen Fluchtversuch starten konnte, packte mich jemand bei den Armen. Ein anderer Junge warf sich auf den Boden und umklammerte meine Beine. Ich versuchte gar nicht erst, mich zu wehren. Im Handumdrehen hatten sie mir meinen Flügeloverall ausgezogen, und ich stand nur noch in Unterhosen in der Menge, wieder genau so, wie ich in die Stadt gelangt war. Ohne Kleidung fühlte ich mich gleich noch viel schutzloser. Zum Glück hatte mir wenigstens jemand eine Brille aufgesetzt.

»Du weißt, was das heißt, Danka?«, fragte Shoky. »Das Gesetz verlangt es so.«

Ich hatte zwar kein Wort verstanden, nickte aber trotzdem. »Was passiert mit Len?«, wollte ich wissen.

»Wenn du den nächsten Patrouillenflug nicht mit ihm antrittst, muss er sich einen neuen Senior suchen«, antwortete Shoky mitfühlend.

Wenn ich nicht mit ihm auf Patrouillenflug ging? Also gab es noch Hoffnung? »Len ist kein Feigling, Shoky. Hilf ihm, wenn es geht«, bat ich.

Shoky nickte. »Was wollt ihr hier überhaupt?«, wandte er sich an die Schaulustigen. »Das ist eine Angelegenheit der Flügelträger! Und schafft die Kinder weg, sie haben hier nichts verloren!«

Die Frauen und die kleineren Jungen stahlen sich schnell aus der Menge.

»Wir waren auch einmal Flügelträger«, empörte sich jedoch einer der Männer. »Es ist unser gutes Recht, zu bleiben. Außerdem muss jemand bei dem Jungen sein… Jemand muss sich um ihn kümmern… nachher…«

»Gut«, sagte Shoky widerwillig. »Bist du jetzt zufrieden, Iwon?«

»Vollauf!«, antwortete dieser.