»Hasst du Danka so sehr?«
»Ich hasse die Freiflieger! Und er hat einen von ihnen entkommen lassen!«
Shoky baute sich vor mir auf und langte nach seinem Dolch. Ich wollte mich befreien, aber die beiden anderen Jungen hielten mich so fest, dass ich mich nicht rühren konnte. Was hatte Shoky bloß vor?
»Lasst ihn los!«, schrie Len. »Es war doch alles ganz anders! Danka, sag ihnen…«
»Schweig!«, brüllte ich. »Schweig! Das ist ein Befehl, Junior!«
Len verstummte und presste sich die Hände vor den Mund. Er starrte mich absolut entsetzt an. Wenn Iwons Kumpane mich in dieser Sekunde losgelassen hätten, wäre ich glatt zu Boden gesackt – so weiche Knie hatte ich.
»Warum hast du den Freiflieger entkommen lassen?«, fragte Shoky, wobei er sich ganz dicht an mich heranschob. Meine Lüge hatte er mir also nicht abgekauft.
»Ich konnte ihn nicht schlagen. Er sah dir ähnlich«, gestand ich im Flüsterton. Ich bemerkte, wie mein einziger Freund unter den Senioren erbleichte.
»Dann war es mein Bruder«, sagte er leise. »Aber das ändert auch nichts.«
Iwon trat hinter meinem Rücken hervor, stellte sich neben Shoky und riss mir mit einer raschen Bewegung die Brille von der Nase. Finsternis umhüllte mich. Mist! Jetzt war ich der einzige Blinde unter lauter Sehenden! Um mich herum gab es nur geräuschvolles Atmen und Angst. Angst und noch mehr Angst…
»Lass mich das machen!«, verlangte der unsichtbare Iwon.
»Nein«, wies Shoky ihn ab. »Haltet seinen Kopf fest!«
In dem Moment begriff ich, was sie vorhatten. Ganz genau wusste ich es. Ich zappelte wild los, versuchte mich zu befreien oder wenigstens den Kopf wegzudrehen, aber mehrere Hände hielten ihn wie in einem Schraubstock fest.
»Nein!« Außer zu schreien konnte ich nichts tun. »Nur das nicht! Dann bringt mich lieber um!«
Daraufhin hielt mir auch noch jemand den Mund zu. Ich rammte meine Zähne in die Hand, konnte aber nicht mal den Flügeloverall durchbeißen. In meinem linken Auge explodierte ein brennender, irrer Schmerz, der von dem Stoß mit dem Dolch stammte. Blutrotes Licht loderte auf…
Als sie meinen Kopf das zweite Mal in die Zange nahmen, brach der Schmerz im rechten Auge aus. An das, was folgte, konnte ich mich später nicht mehr erinnern. Denn ich wurde ohnmächtig.
6. Der Wahre Blick
Ich lag zugedeckt da und nichts tat mir weh. Es war ja auch überhaupt nichts Schlimmes passiert. Ich war einfach neben dem Sonnenkater eingeschlafen, Len und ich hatten das Fliegen noch nicht trainiert, wir waren noch nicht Patrouille geflogen, hatten noch nicht…
Halt! Das alles war schon passiert!
Als mir der ganze Horror wieder einfiel, schrie ich auf. Eine Hand berührte mein Gesicht.
»Ganz ruhig, mein Junge, ganz ruhig. Hör auf zu schreien. Und versuch, nicht zu weinen.«
»Wo bin ich?«
»Bei mir.« Die Stimme kannte ich nicht. Sofort fügte ihr Besitzer hinzu: »Bei Gert, dem alten Gert. Hast du noch nicht von mir gehört?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das macht nichts, mein Junge. Möchtest du etwas essen? Schließlich hast du erst vor Kurzem einen Patrouillenflug absolviert…«
Aber ich wollte nichts essen.
»Und trinken?«
Gert flößte mir etwas ein, ohne dass ich zu sagen gewusst hätte, was ich da trank. Anschließend streichelte er mir noch einmal über die Wange.
»Wo ist Len?«
»Er ist zu sich… zu euch nach Hause gegangen. Für dich ist es besser, wenn du erst einmal bei mir bleibst, mein Junge. Einen Tag vielleicht, oder zwei…«
»Ist es eigentlich um uns herum dunkel?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete Gert nach kurzem Zögern. »Deine Augen sind fest verschlossen.«
»Und wenn ich sie aufmache?«
»Das solltest du besser nicht tun, mein Junge. Ich habe dir eine Salbe aufgetragen, aber wenn du die Augen aufschlägst, kommt der Schmerz zurück.«
»Bleibt das jetzt immer so?«
Gert schwieg.
»Was passiert jetzt mit mir?«
»Wenn ein Flügelträger nicht mehr fliegen kann, erhält er kein Essen.«
Ich lachte hysterisch los. Fliegen? Wenn’s weiter nichts ist! Obwohl sie mir die Augen ausgestochen hatten, galt ich also noch als Flügelträger. Schließlich hatte ja nicht ich versagt, sondern nur meine Augen. Okay, ich würde verhungern – falls nicht Len oder ein paar mitleidige Erwachsene mir hin und wieder etwas zu essen gaben…
»Weine nicht«, wiederholte Gert, während er die Tränen von meinen Wangen wischte. »Du verschmierst die Salbe und davon habe ich nicht so viel. Ohne sie kommt der Schmerz zurück.«
Mir doch egal! Ich hob die Hand, brachte es aber nicht über mich, meine fest zusammengepressten Lider zu berühren. In diesem Moment ging die Tür auf und ich hörte Schritte.
Das war es also, was mir noch blieb: Geräusche. Bis in alle Ewigkeit hinein würde ich nur noch das Trippeln von Schritten und rücksichtsvolle Stimmen hören.
»Wie geht’s dir, Senior?«, fragte Len leise.
Seiner Stimme nach zu urteilen, stand er neben dem Bett, in dem ich lag. Ich tastete nach seiner Hand und drückte sie fest.
»Weshalb?«, flüsterte ich. »Weshalb hat Shoky das getan? Warum hat ausgerechnet er… mich blind gemacht?«
Diese Frage ließ mir keine Ruhe.
»Wenn er Iwon den Dolch gegeben hätte, hätte der versucht, dich umzubringen«, antwortete Len mit leiser Stimme. Er warf sich auf mich und fing an zu weinen: »Das ist alles wegen mir! Das ist alles nur wegen mir! Danka… Ich hätte alles erklären müssen!«
»Dich hätten sie auf der Stelle umgebracht!«
»Ich hätte alles von Anfang an erzählen müssen! Ich bin ein Feigling! Das ist alles nur meine Schuld! Weil ich so ein Feigling bin, Senior!«
»Du solltest diese Worte nicht leichtfertig gebrauchen, mein Junge«, mahnte der alte Gert. »Du bist kein Feigling. Du bist nur nicht für diesen Krieg geschaffen. Wir haben einst einen Fehler gemacht, für den aber jetzt ihr bezahlen müsst.«
»Bist du derjenige, der sich noch an die Sonne erinnert?«, fragte ich, während ich Len in den Arm nahm. Mein Freund schluchzte schon nicht mehr ganz so jämmerlich. Komischerweise hatten seine Tränen mich beruhigt. Aber ich war immer noch der Senior! Deshalb musste ich stärker sein. Und das würde ich auch.
»Ganz richtig, mein Junge. Ich bin einer der Letzten, die sich noch an das Wahre Licht erinnern.«
»Zu dir wollten wir sowieso«, meinte ich. »Len, wo ist der Kater?«
»Ich bin hier«, meldete sich der Kater. Orientierte ich mich an seiner Stimme, schwebte er in der Luft über mir. »Bislang habe ich geschwiegen, weil ich mir erst ein Bild von der Situation machen wollte.«
Seine Stimme klang ernst, aber relativ ruhig. Das ließ mich wieder hoffen.
»Kater! Du hast mich doch damals gesund gemacht! Weißt du noch?«
Der Kater schwieg.
»Träume ich das?«, fragte stattdessen Gert. »Bist du ein sprechender Kater?«
»Weder dass ich spreche noch dass ich leuchte, ist ein Traum«, kanzelte ihn der Kater ab. »Danka, ich kann dir nicht helfen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.«
Ich seufzte und malte mir aus, wie schön es gewesen wäre, einfach mit Len nach Hause zu gehen und dort eine Kissenschlacht mit dem Kater anzufangen. Ich konnte nichts dagegen tun: Ich fing wieder an zu weinen.
»Meine Kräfte reichen dafür nicht«, entschuldigte sich der Kater. »Wenn ich nur das geringste bisschen Licht hätte, Wahres Licht meine ich, würde ich dich sofort kurieren. Tut mir leid.«
»Aber wenn wir Licht finden, kannst du mir helfen?«
Mein Bett erbebte, als der Kater neben mir landete. Er hatte also gar nicht in der Luft geschwebt – woher hätte er auch die Kraft für einen Flug nehmen sollen? –, sondern Gert hatte ihn auf dem Arm gehalten. Solchen Irrtümern würde ich in Zukunft ständig aufsitzen…