»Kann denn jeder Sonnenball lebendig werden, wenn man ihn ruft?«, fragte ich vorsichtig, denn ich befürchtete, der Kater könnte gleich wieder einschnappen.
»Wo denkst du hin!« Er tat entrüstet und schüttelte den Kopf. »Jeder? Pah! Nur das Wahre Licht, zurückgeworfen vom Wahren Spiegel, kann uns beleben.«
»Und was ist…?«, setzte ich an.
Der Kater wartete das Ende meiner Frage gar nicht erst ab. »Das Wahre Licht ist das Sonnenlicht«, erklärte er, während er über meine Bettdecke stolzierte. »Und Sonnenlicht ist etwas sehr Kostbares. Denn die meisten Sonnenstrahlen kommen gar nicht hier an. Lediglich einer unter Abertausenden von Sonnenstrahlen schafft es, zur Erde vorzudringen. Bei Sonnenaufgang oder bei Sonnenuntergang…« Der Kater sah zum Fenster hinaus und verzog angewidert das Gesicht. »… und manchmal sogar bei solchem Sauwetter.«
Er schwieg eine Weile, dann öffnete er den Mund wieder und fuhr sich entschuldigend mit der Pfote über den Kopf. »Und was der Wahre Spiegel ist… also, das weiß ich nicht. Vor fünf Minuten hat es mich schließlich noch nicht gegeben und mit dem Spiegel habe ich erst kurz davor Bekanntschaft geschlossen. Der Wahre Spiegel… also, das ist ein Spiegel, der das Wesen der Dinge enthüllt. Dergleichen ist höchst selten. In einem Wahren Spiegel sieht sich ein Mensch so, wie er wirklich ist, während die Dinge darin so aussehen, wie sie sein sollten. Aus diesem Grund zerstört man die Wahren Spiegel nur allzu oft«, beendete der Kater seine Ausführungen mit einer unvermuteten Wendung. »Und damit habe ich alles gesagt, was ich weiß.«
Behände sprang er von der Decke hinunter und landete weich auf dem Boden. Anschließend rannte er zum Fenster und machte einen langen Hals. »Jetzt ist die Sonne ganz weg«, meinte er traurig. »Ich habe es ja geahnt.«
Das orangefarbene Fell des Katers leuchtete mit einem weichen, dunkelroten Ton. Und obwohl es gar nicht viel Licht spendete, ließ sich plötzlich alles besser als sonst erkennen. Unter der Heizung erspähte ich eine Münze, die wer weiß wann dahin gekullert war, auf dem Teppich zeichnete sich klar und deutlich ein Fleck ab, der von dem Tee stammte, den ich vor ewigen Zeiten verschüttet hatte. Damit kapierte ich aber auch endgültig: All das geschah wirklich. Ich hockte tatsächlich in meinem Bett und unterhielt mich mit einem Sonnenkater, der aus dem Wahren Licht entstanden war, das ein Wahrer Spiegel zurückgeworfen hatte.
»Bist du ein Zauberer?«, erkundigte ich mich leise, denn ich schämte mich wegen dieser Frage.
»Ich glaube nicht an Märchen, dafür bin ich schon zu groß«, äffte mich der Kater nach, dem meine Verlegenheit nicht entgangen war. »Ja! Ich bin ein Zauberer. Solltest du jedoch darauf bestehen, bete ich dir aber auch gerne etwas über Photonen, Protonen und Magnetfelder herunter. Schreib dir allerdings eins hinter die Ohren: Daran glaube ich nicht.«
Sein spöttischer Ton ärgerte mich ein bisschen.
»Was kannst du denn überhaupt?«, fragte ich. »Vielleicht miauen?«
»Natürlich!«, sagte er empört. Er sprang er in die Luft, blieb dort hängen und gab ein kurzes Miauen von sich. »Na, überzeugt? Und soll ich dir auch noch beweisen, dass ich Mäuse fangen kann?«
»Nicht nötig«, antwortete ich. »Aber wenn du ein Zauberer bist, dann vollbring doch mal ein Wunder!«
»Ich selbst bin das Wunder.« Theatralisch drehte der Kater mir den Rücken zu.
Ich schob die Decke beiseite, setzte mich auf die Bettkante und ließ die Füße baumeln. Ich wollte den Kater streicheln und spielte sogar mit dem Gedanken, mich bei ihm zu entschuldigen, damit er nicht mehr sauer auf mich war und nicht weglief. Doch da musste ich ziemlich heftig husten.
»Bist du krank?«, fragte der Kater, ohne sich umzudrehen.
»Mhm.«
»Leg dich hin.«
Der Kater kam zu mir geflogen und stoppte direkt neben meinem Hals, und zwar so überraschend, dass ich einen Schreck bekam.
»Leg dich hin, hab ich gesagt!«, wiederholte der Kater mit strenger Stimme. »Keine Angst, ich beiße nicht, erkältete kleine Bengel schmecken mir nämlich nicht.«
Wie er sich an mir festhielt, blieb mir ein Rätsel. Die Krallen, falls er überhaupt welche hatte, fuhr er jedenfalls nicht aus. Ob er in der Luft über mir schwebte? Kaum hatte ich mich gehorsam hingelegt, kauerte er sich neben mich und bettete den Kopf auf mein Kinn.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte ich zaghaft.
»Ich kuriere dich. Ist es warm?«
»Ja.«
»Dann lieg still. Wenn es heiß wird, sag Bescheid.«
Es wurde jedoch nicht heiß, sondern nur warm. Das sagte ich dem Kater auch. Der blieb eine Minute liegen, dann sprang er runter auf den Boden. »Das genügt«, verkündete er.
»Willst du mir etwa weismachen, ich sei wieder gesund?«
Er nickte. Ein nickender Kater sieht absolut komisch aus, doch da sein Fell feuerrot leuchtete, verkniff ich mir mein Lachen lieber.
»Ich merke aber gar nichts! Bloß mein Hals kratzt nicht mehr…«
»Und was gedachtest du zu merken?«, schnauzte der Kater. »Schließlich hattest du nur eine schnöde Erkältung! Ein kräftiger Junge, aber beim ersten Husten, schwupps, verschwindet er im Bett!«
Ich wollte ihm schon antworten, dass mich meine Mutter ins Bett gesteckt hatte, überlegte es mir dann aber anders. Schließlich war meine Mutter längst zur Arbeit gegangen. Was sie wohl zu einem sprechenden und leuchtenden Kater sagen würde? Ob sie Angst vor ihm hätte?
»Also, was kannst du?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht«, sagte er. »Schließlich bin ich ja noch klein.«
»Wirst du noch größer?«
»Wohl kaum«, antwortete der Kater und wurde prompt traurig. »Das Wahre Licht ist eine Seltenheit. Um groß zu werden, bräuchte ich jedoch genau dieses Licht. Oh! Weißt du, was ich kann? Ich kann verloren gegangene Sachen wiederfinden! Knöpfe und Münzen zum Beispiel! In mir selbst steckt nämlich Wahres Licht – und vor dem kann sich nichts und niemand verstecken!«
»Klasse«, brachte ich ohne allzu große Begeisterung hervor. Dann konnte ich mich nicht mehr beherrschen, streckte die Hand aus – und streichelte den Kater. Heiß war er nicht, aber ein bisschen wärmer als ein richtiger Kater. Früher hatte ich mal einen Kater gehabt, doch eines Tages hatte meine Mutter verlangt, dass ich ihn weggebe. Aus heiterem Himmel hatte sie nämlich eine Katzenallergie gekriegt.
Der kleine Kater hier tat so, als bemerke er gar nicht, wie ich ihn streichelte. Trotzdem hatte ich in den Eindruck, dass es ihm gefiel.
»Außerdem kann ich noch…«, stotterte der Kater, »… ich kann… also, ich kann Türen finden.«
Ich brach in schallendes Gelächter aus. »Eine Tür finde ich gerade noch allein! Wenn allerdings meine Haare leuchten würden, könnte ich es auch in der Dunkelheit schaffen.«
»Dummkopf!« Der Kater warf mir einen überlegenen Blick zu. »Ich meine selbstverständlich keine normalen Türen. Ich meine die Verborgenen!«
In dem Moment hatte ich natürlich nicht den geringsten Schimmer, von was für Türen er sprach. Trotzdem zitterte ich ein bisschen, als ginge eine Welle eisiger Luft durchs Zimmer.
»Und was soll das sein, eine Verborgene Tür?«, fragte ich, wobei ich unwillkürlich flüsterte.
»Eine Verborgene Tür führt von einer Welt in eine andere«, antwortete der Kater ebenfalls mit gesenkter Stimme. »Die Menschen sehen sie normalerweise nicht.«
Eine Tür, die von einer Welt in eine andere führt? Wer’s glaubt, wird selig!
»Und wo verstecken sich diese Türen?«, fragte ich.
»Die können überall sein«, erklärte der Kater. »Würde mich nicht wundern, wenn es in deinem Zimmer auch welche gäbe. Aber das haben wir gleich.«