Len nickte. Das Gespräch mit dem Händler machte ihm Spaß. Ich lief einfach neben den beiden her und musterte die kleine Kaufmannsfamilie genau.
Sie alle hatten dunkle Haut, eindeutig von der Sonne. Bei dem Mädchen pellte sich sogar die Nasenspitze, sie musste sich einen Sonnenbrand eingefangen haben! Alle trugen ordentliche Sachen, Hosen, die irgendwie an Jeans erinnerten, und knallige Pullover. Das Mädchen und seine Mutter hatten Strickmützen auf, was auch logisch war, denn in den Bergen war es kalt – und an Kälte waren sie nicht gewöhnt, daran bestand gar kein Zweifel. Nur der Mann war bewaffnet, mit einem kurzen Schwert. Anscheinend vertrauten die Händler voll und ganz auf die Soldaten, oder sie mussten noch Waffen dabeihaben, die effektiver als Hieb- und Stichwaffen waren.
Mir gefielen diese Leute nicht! Schon auf den ersten Blick nicht! Vor allem das Mädchen nicht, das grinsend zu Len hinüberschaute und immer wieder mit seiner Mutter sprach, worauf beide jedes Mal gegen einen Lachkrampf ankämpften. Im Vergleich zu den Soldaten in den braunen Tarnanzügen und zu Len und mir mit unseren schwarzen Flügeloveralls sahen die drei wie blöde, reiche Touristen aus, die sich in ein Kriegsgebiet verirrt hatten.
»Möchtest du ein Bonbon?«, fragte der Händler Len. Der nickte heftig. Daraufhin kramte der Händler ein in Papier eingewickeltes Bonbon aus seiner Tasche, das er Len zuwarf, obwohl zwischen ihnen nicht mehr als ein Meter lag. Len sprang vor und fing das Bonbon auf.
»Willst du es, Senior?«, fragte er, indem er sich zu mir umdrehte.
Das Mädchen kicherte schon wieder. Ich ging zu Len, nahm das Bonbon, ließ es fallen und zertrat es.
»Wie bedauerlich«, sagte ich zu dem Händler. »Da ist es mir wohl aus der Hand gefallen.«
Der Händler und ich standen wie angewurzelt da und starrten uns an. Die Karawane zog unverdrossen weiter. Len war ebenfalls wie versteinert und schaute erschrocken zu uns herüber.
»Wir machen nur selten Geschenke«, sagte der Händler schließlich. »Die sollte man nicht ablehnen.«
»Bisher habe ich noch keine Geschenke gesehen«, erwiderte ich. »Nur Almosen. Gute Reise, wir treffen uns dann in der Stadt wieder.«
Daraufhin breitete ich meine Flügel aus und erhob mich in die Luft. Ich hätte mir die Händler vorher noch mit dem Wahren Blick ansehen sollen! Aber das würde ich irgendwann nachholen.
Len holte mich auf dem Weg zur Stadt ein.
»Warum hast du das gemacht, Danka?«, wollte er wissen, sobald er mich erreicht hatte. »Ihre Bonbons sind immer lecker!«
»Du Kind!«, knurrte ich mit einer Wut, die mich selbst überraschte. »Len, begreif doch, man darf sich nicht so von oben herab behandeln lassen!«
»Bind das Tuch um, uns kommt jemand entgegen!«, rief Len mir zu. Ich kochte immer noch vor Wut und hätte ihm beinahe eine gescheuert, band das Tuch dann aber doch um und ließ Len vorausfliegen.
Als ich sah, wer auf uns zusteuerte, vergaß ich Len und die Händler sofort. Da kam Iwon. Ich erkannte ihn an seinem Flug. Der Flügelschlag eines jeden Menschen war für mich inzwischen genauso unverwechselbar wie seine Handschrift.
»Arbeitest du jetzt als Blindenführer?«, spottete Iwon, kaum dass er über uns war. »Das ist eine hervorragende Lösung, Len! Du bist wirklich der ideale Partner für einen Feigling. Und was ist mit dir, Senior aus einer anderen Stadt? Kneift das Tuch nicht?«
Meine Antwort war, dass ich nach oben schoss und ihm meine Schwertspitze an den Hals knallte.
»Du bist doch blind!«, kreischte Iwon, der nicht einmal versuchte, sich wegzuducken. »Du bist blind!«
»Mein Gehör reicht mir«, erklärte ich. »Wie gefällt dir meine Klinge? Ist sie nicht schön scharf?«
»Flügelträger ermorden einander nicht!«, wimmerte Iwon mit weichlicher Stimme. »Halt ihn auf, Len!«
Doch Len schwebte bloß neben uns und genoss die Szene.
»Ihr habt den schönen Brauch, Feiglinge zu bestrafen, Iwon«, fuhr ich fort. »Jetzt werde ich einen neuen Brauch einführen. Nämlich den, Schweinehunde zu bestrafen.«
Ich schlug mit voller Kraft auf ihn ein und hackte ihm den rechten Flügel ab. Hals über Kopf fiel Iwon in die Tiefe. Kurz sah ich ihm nach, dann legte ich die Flügel an und stürzte ihm hinterher.
Ich fing Iwon kurz vor dem Boden ab, packte ihn bei den Haaren und bremste seinen Fall mit einem einzigen Ruck. Danach hielt ich ein paar mit der Wurzel ausgerissene Büschel in der Hand. Iwon quiekte wie ein Ferkel.
»Vergiss das nie«, ermahnte ich ihn, als ich neben ihm landete. »Man sollte sich nicht wie ein Schweinehund verhalten. Niemals. Wiederhol das jeden Morgen. Vielleicht erlebst du dann noch den Tag, an dem du zu schwer für deine Flügel sein wirst.«
Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug ich ihm auch noch seinen linken Flügel ab. Iwon stand bloß da, glotzte mich panisch an und machte keine Anstalten, nach seiner Armbrust zu langen. Schließlich erhob ich mich wieder in die Luft. Und zwar so schnell, dass der Pfeil, den er mir am Ende doch noch nachschoss, mich nicht mehr erreichte.
»Was hast du mit ihm gemacht?«, fragte Len, der am Himmel auf mich gewartet hatte. »Hast du ihn umgebracht?«
»Nein, ich habe ihm die Flügel abgeschnitten. Soll er doch zu Fuß in die Stadt zurückwatscheln!«
»Dann werden sich alle über ihn lustig machen«, meinte Len ernst.
»Das will ich doch hoffen. Glaubst du, er schafft es bis in die Stadt?«
»Warum denn nicht? Entweder kriecht dieser Mistkerl selbst bis dorthin oder die Karawane liest ihn unterwegs auf. Schließlich befindet er sich auf deren Route.«
»Fliegen wir nach Hause«, schlug ich vor, nachdem ich die letzten Zweifel an meinem Verhalten vertrieben hatte.
Wir landeten auf dem Platz, genau da, wo Shoky mir vor drei Tagen die Augen ausgestochen hatte. Als wir nach Hause gingen, blickten die Leute mir nach. Manche schauten verängstigt, andere erstaunt. Dann begegnete uns Shoky. Schnell legte mir Len mit mitleidiger Miene seine Hand auf die Schulter. Ich blieb stehen und blickte durch das schwarze Tuch hindurch.
»Freut mich, dass euer Patrouillenflug geklappt hat«, meinte Shoky, während er auf uns zukam. »Du kannst vorzüglich fliegen, das habe ich jetzt gesehen. Ich will mich entschuldigen.«
Die Wut, die ich auf ihn hatte, löste sich bei diesen Worten in Luft auf.
»Shoky, Gesetze sind wichtig. Aber man darf sich nicht zum Sklaven der Gesetze machen«, sagte ich. »Sonst machst du dich auch in allen anderen Bereichen zum Sklaven. Über den Bergen haben wir Iwon getroffen. Er hatte Probleme mit seinen Flügeln, sodass er zu Fuß und bestimmt ziemlich spät nach Hause kommt. Mach dir also keine Sorgen.«
»Ich verstehe das alles nicht«, gab Shoky zu. »Wie machst du das, Danka?«
»Die Karawane erreicht die Stadt morgen früh«, informierte ich ihn und tat so, als hätte ich seine Frage nicht gehört. »Ihr könnt also schon mal überlegen, wer diesmal bei ihnen anheuert. Und geht davon aus, dass Len und ich bereits als Begleitsoldaten für die Strecke von hier bis zur Stadt der Händler angeheuert haben.«
»Ihr verlasst uns?«, rief Shoky aus, als traue er seinen Ohren nicht.
»Gehen wir, Junior«, befahl ich Len. Wir gingen weiter.
Nach zehn Metern hielt Len es nicht mehr aus. »Ist das dein Ernst, Danka?«, fragte er.
»Absolut.«
»Aber du hast mich nicht mal gefragt! Vielleicht will ich ja gar nicht weggehen!«
Mir fiel wieder der Len ein, den ich mit dem Wahren Blick gesehen hatte. »Willst du etwa nicht mitkommen?«
Len sagte kein Wort.
»Wir gehen in die Stadt der Händler. Wir knacken alle ihre Geheimnisse. Wir bekommen heraus, wo sie so verdammt braun geworden sind«, sagte ich und malte ihm das Unternehmen in den schillerndsten Farben aus und meine Worte rissen mich selbst mit. »Und wag es jetzt ja nicht, zu lügen – von wegen, du würdest nicht davon träumen, aus dieser Stadt rauszukommen!«