Len antwortete erst, als wir das Haus erreichten: »Stimmt, ich träume davon. Ich mag meine Stadt nicht! Aber ich wünschte, du hättest nicht diesen Wahren Blick bekommen, mit dem du in mir lesen kannst wie in einem offenen Buch! Ich will nicht, dass du alles für mich entscheidest, Danka!«
Als wir das Haus betraten, schwiegen wir beide, jeder mit sich selbst beschäftigt. Len holte das altbackene Brot heraus, schnitt sich etwas ab und fing an, wortlos darauf herumzukauen. Mir stand der Sinn nicht nach Selbstkasteiung, deshalb langte ich nach einem Stück Dörrfleisch und ließ es mir schmecken.
Wir aßen immer noch, als der Kater zu uns stieß. Vermutlich hatte er oben friedlich geschlafen, dann unsere Anwesenheit gespürt und war nach unten gekommen.
»Oh, oh«, bemerkte der Sonnenkater nur, während er auf den Tisch sprang und sich zwischen uns legte.
Eine gute Minute schwieg er und schaute abwechselnd Len und mich an. Es machte mich verlegen, als mir klar wurde, dass auch er in uns las wie in einem offenen Buch. Und ihm entging nichts!
»Ich muss mit dir reden, Len«, eröffnete der Kater ihm streng.
»Warum?«, fragte Len. »Ich habe nichts getan! Ich habe mich nicht mal mit Danka gestritten.«
»Ich muss mit dir reden, weil es zurzeit rein gar keinen Sinn hätte, mit Danka zu sprechen«, fuhr der Kater in unverändert strengem Ton fort. Das Herz krampfte sich mir zusammen. Was sollte das heißen – es hätte keinen Sinn? »Danka macht eine schwere Zeit durch, eine sehr schwere. Er hat ein wenig vom Wahren Licht in sich aufgenommen und ist nun fähig, mit dem Wahren Blick zu sehen. Natürlich hat er prompt beschlossen, in die Rolle des guten Helden zu schlüpfen, der die Wahrheit kennt und besser als alle anderen weiß, was für einen gut ist. Ganz nebenbei möchte er eurer Welt auch noch das Licht zurückgeben.«
»Das stimmt nicht!«, protestierte ich. Doch sobald mir der Kater in die Augen schaute, verstummte ich.
»Du kannst gern hinausgehen«, sagte der Kater. »Schließlich unterhalte ich mich nicht mit dir, sondern mit deinem einzigen Wahren Freund. In seiner Begeisterung bringt Danka einiges durcheinander, Len. Er glaubt, wenn in seinen Augen Licht ist, kann er nichts Schlimmes mehr anstellen. So ist es aber keineswegs. Licht und Finsternis sind bloß Kräfte. Selbst wenn du voller Licht erstrahlst, wird es dich doch nicht davor schützen, Fehler zu machen oder einen niederträchtigen Charakter zu entwickeln.«
»Was muss ich tun?«, fragte Len leise. »Wie kann ich ihm helfen?«
»Verzeihe Danka, wenn er dich beleidigt. Versuche zu verstehen, dass er eigentlich nur dein Bestes will. Er sieht jetzt nämlich alle Menschen so, wie sie im Grunde ihres Herzens sind, aber manchmal muss man sie halt so sehen, wie sie gern sein wollen.«
»In Ordnung«, sagte Len.
»Und noch etwas. Streite dich nicht mit Danka, weil er vergessen hat, dein Einverständnis zu erbitten, denn er weiß ja, dass du einverstanden bist. Aber streite dich mit ihm, wenn er wirklich einen Fehler macht.«
Ohne ein Wort hervorzubringen, nickte Len.
»Und jetzt«, sagte der Kater, während er sich erhob, »gehe ich kurz raus und komme noch einmal herein. Und wenn ich wieder hereinkomme, möchte ich ein anderes Bild vorfinden.«
Als der Kater zurückkam, stand eine volle Schüssel mit Sahne für ihn auf dem Tisch. Len und ich saßen zusammen in einem Sessel.
»Oh, oh«, sagte der Kater auch diesmal. Allerdings in einem ganz anderen Ton! Er leckte probeweise von der Sahne und nickte anerkennend. »Wie habt ihr das gemacht?«
»Die Sahne in die Schüssel geschüttet?«, sagte Len und tat erstaunt. »Och, das war ein Kinderspiel, einfach aus der Kanne in die Schale rein.«
»Hör schon auf, mich zu verschaukeln!«, rief der Kater. »Du weißt genau, was ich meine!«
Len und ich sahen uns grinsend an.
»Es war wirklich nicht schwer«, antwortete ich für Len. »Wir haben uns nur angesehen, dann hat Len die Sahne geholt und ich die Schüssel. Dann haben wir uns hingesetzt und auf dich gewartet.«
»Das habt ihr gut gemacht«, befand der Kater. »Entscheidend ist, dass ihr auf dumme Entschuldigungen verzichtet und auch darauf, euch ewige Freundschaft zu schwören. Insofern können wir jetzt unseren Kriegsrat eröffnen. Dich, Danka, möchte ich dringend ermahnen, vorsichtig mit dem Wahren Blick zu sein.«
»Wir haben die Händler getroffen«, fing Len an. »Sie erreichen morgen früh die Stadt. Danka hat es schon geschafft, sich mit ihnen zu überwerfen.«
»Daran sind sie selbst schuld«, erklärte ich. »Es sind drei, die Soldaten nicht mitgezählt. Ein Mann mit seiner Frau und ihre komische Tochter. Der Mann hat Len ein Bonbon gegeben, indem er es ihm hingeworfen hat wie einem Hund! Da habe ich das Bonbon zertreten. Das Mädchen ist braun gebrannt, sie muss vor Kurzem in der Sonne gewesen sein!«
»Bist du sicher, dass dieser Händler Len beleidigen wollte?«
»Nein, aber…«
»Und ist dir bekannt, dass die Händler auf ihren Schiffen in verschiedene Welten segeln und ihre Kinder deshalb nicht weiß wie Kochfisch aussehen müssen?«
Ich schwieg. Irgendwann senkte ich den Blick. »Vermutlich bin ich ein ganz schöner Idiot«, räumte ich ein. »Ich habe geglaubt, wir bräuchten bloß in die Stadt der Händler zu gelangen und herauszukriegen…«
»… wo sie die liebe, gute Sonne verstecken«, beendete der Kater den Satz mit zuckersüßer Stimme. »Deine Märchen hast du jedenfalls gelesen. Aber in die Stadt der Händler müssen wir tatsächlich.«
»Ja?«, sagte ich und freute mich schon. »Weshalb?«
»Um herauszufinden, wer ihnen das Licht abgekauft hat. Um herauszufinden, weshalb sie nicht mit den Freifliegern im Krieg liegen. Was sie ihnen verkaufen oder von ihnen kaufen. Warum sie angeblich niemanden fürchten. Und weshalb sie trotzdem Soldaten als Begleitschutz brauchen. Die Städte liegen den Händlern quasi zu Füßen, mit den Freifliegern haben sie auch keine Scherereien. Dessen ungeachtet bestehen die Händler auf Soldaten, die die Karawane begleiten.«
»Genau«, sagte ich. »Du hast die Probleme viel klarer benannt als ich, Kater!«
»Das liegt daran, dass ich mich weder ausschließlich auf das Äußere noch ausschließlich auf das Wahre Wesen verlasse«, erklärte der Kater. »Du dagegen hast deine Schlussfolgerungen anfangs nur daraus gezogen, wie die Händler aussahen, und später ausschließlich aus dem Wesen von Len. Das ist ein Doppelfehler.«
»Danka!«, rief Len plötzlich. »Kannst du wirklich in mir lesen wie in einem offenen Buch?«
Nervös wartete er auf eine Antwort. Da log ich. Wer hört denn schon gern, dass er kein Geheimnis mehr haben kann – selbst wenn es ein Freund ist, der alles von dir weiß. »Was gibt es denn da groß zu entdecken? Dich braucht man nur kurz anzusehen, dann weiß man Bescheid. Da werde ich meine Kräfte doch nicht verschwenden!«
Daraufhin beruhigte sich Len ein bisschen. »Danka hat recht. Wir müssen in die Stadt der Händler gehen«, meinte er schließlich mit einem Seufzer. »Ich wollte da schon lange mal hin… Nur müssen wir zuerst Shoky fragen, damit unser Haus in der Zwischenzeit an niemand anderen vergeben wird, immerhin habe ich mich daran gewöhnt.«
Mit Shoky reden? Bei der Vorstellung, wie nach unserer heutigen Begegnung so ein Gespräch aussehen würde, schnaubte ich bloß.
»Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Len tapfer. »Zwar weiß ich, dass er mich nicht gerade ins Herz geschlossen hat, aber es ist ja eine ehrliche Bitte… Die wird Shoky mir nicht abschlagen. Ich gehe am besten gleich zu ihm.«
»Nur zu«, spornte der Kater ihn an. »Derweil werde ich mir überlegen, was wir mitnehmen müssen. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich einen Blick in deine Schränke werfe?«