»Kein Problem«, meinte Len munter, während er aufstand. »Ach ja, noch etwas… erwartet mich nicht allzu schnell zurück. Ich werde noch bei meiner Mutter vorbeigehen, um mich von ihr zu verabschieden.«
»Was sind wir nur für Dummköpfe«, grummelte der Kater, nachdem Len gegangen war. »Da haben wir völlig vergessen, dass er immer noch ein Junge ist, der eine Mutter hat… Was hast du denn, Danka? Warum weinst du?«
»Du unglückseliger Zauberer!«, heulte ich, während ich mein Gesicht in den Händen vergrub. »Ich habe auch eine Mutter! Und von ihr konnte ich mich nicht verabschieden.«
Zweiter Teil
Die Händler
1. Aufbruch aus der Stadt
Gleich früh am Morgen packten wir unsere Sachen. Wir wollten nur das Nötigste mitnehmen, selbst wenn wir marschierten und nicht flogen. Wir wählten die besten Waffen (das tat Len), warme und gute Kleidung sowie ein wenig Proviant. Und natürlich ein paar neue Flügel für jeden von uns, auf Vorrat.
Die Händler erreichten die Stadt am Mittag. Langsam näherte sich die Karawane dem Platz, die Begleitsoldaten brachten die Tiere dazu, sich hinzulegen, der Händler trat an die auf ihn wartenden Erwachsenen heran und fing gleich mit dem Feilschen an.
Das ist natürlich nur so dahergesagt: Feilschen. Im Grunde diktierte er den Erwachsenen seine Bedingungen, denn diese hatten keine große Wahl. Der Händler schlug vor, ihnen die Hälfte seiner Waren zu überlassen – Lebensmittel, Stoffe und Waffen –, wenn im Gegenzug zehn junge Männer in den Dienst irgendeines Herzogs aus einer anderen Welt träten. Dabei betonte der Händler, dass es in dieser anderen Welt eine Sonne gebe und die Männer Flügel erhielten, die das Gewicht von Erwachsenen tragen könnten. Dann könnten sie wieder wie in der Kindheit fliegen.
Es gab ziemlich viele Freiwillige. Die Erwachsenen stritten sich sogar, einigten sich am Ende aber doch. Wenn ich es richtig verstand, durften sie nach fünf Jahren zurückkehren, konnten aber auch versuchen, bei jemand anderem anzuheuern beziehungsweise den Dienst beim Herzog noch um weitere fünf Jahre zu verlängern, wobei sie dann nicht umsonst arbeiten müssten, sondern sogar Geld bekämen. Prompt versicherten die meisten Männer, sie würden nach fünf Jahren bestimmt zurückkehren. Das nahm ich ihnen aber nicht ab. Die anderen übrigens auch nicht. Wer würde denn schon die Sonne, Flügel und den Dienst in der Garde eines Herzogs gegen eine dunkle, düstere Welt eintauschen, in der man nicht fliegen kann?
Nachdem die Erwachsenen alles ausgehandelt hatten, luden sie die Hälfte der Waren ab. Das war für uns die Gelegenheit, um an den Händler heranzutreten.
»Wir wollen für Sie arbeiten«, fing ich an.
»Das hätte ich nie für möglich gehalten«, meinte der Händler erstaunt und zog beide Augenbrauen hoch. »Schließlich begegnest du uns nicht gerade mit Respekt, mein Junge.«
»Wir wollen auch nicht lange in Ihren Diensten bleiben«, erklärte ich ihm. »Nur bis wir in Ihrer Stadt sind.«
»Ach ja?« Der Händler schien sich gar keine Mühe zu geben, seine Belustigung zu verbergen. »Und dann?«
»Das entscheiden wir vor Ort. Aber ich glaube, für Flügelträger wird sich auch dort Arbeit finden.«
»Könnte durchaus sein«, meinte der Händler mit einem Kopfnicken. »Weißt du, mein Junge, ich habe den Eindruck, du siehst in uns deine Feinde. Aber genau deshalb werde ich auf dein Angebot eingehen.«
»Glauben Sie etwa, wir werden die Händler dann lieben?«
»Das nicht unbedingt. Aber wir haben so wenig Feinde, dass ich die wenigen lieber im Auge behalten möchte.«
»Eine ehrliche Antwort«, räumte ich ein.
»In unserem Metier lohnt es sich nicht, zu lügen.« Der Händler streckte die Hand aus, als wollte er mir über den Kopf streicheln. Als ich zurückwich, tat er so, als wäre nichts geschehen. »Ich glaube nicht, dass ihr unterwegs etwas zu tun bekommt. Aber trotzdem biete ich euch einen Lohn an: fünf Taler für jeden. Das ist gutes Geld.«
»Sieben Taler für jeden«, verlangte ich. Erstaunt blickte mich der Händler an. »Sieben«, wiederholte ich. »Ich kann schließlich feilschen.«
»Das bezweifle ich zwar, aber von mir aus sechs für jeden.«
»Abgemacht!« Ich streckte die Hand aus und der Händler schlug mit ernster Miene ein.
»In zwei Stunden ziehen wir weiter. In eurer Stadt wollen wir uns nicht lange aufhalten, wir haben es nämlich eilig. Seht zu, dass ihr pünktlich seid, denn ich werde nicht auf euch warten… Kann ich dir noch eine Frage stellen?«
»Natürlich.«
»In den Bergen hast du keine Binde vor den Augen getragen. Wozu brauchst du sie da in der Stadt?«
Das brachte mich total aus dem Konzept. Ich hatte völlig vergessen, dass ich das Ding in den Bergen abgenommen hatte. Bestimmt sah ich jetzt ziemlich bescheuert aus: Ein Junge mit einer Art Blindenbinde, der sich so verhielt, als könne er alles sehen… Ob ich ihm antworten sollte, das sei ein Spiel von uns? Aber was gab es hier schon für Spiele, von Flügelträger und Freiflieger mal abgesehen? Ich spähte umher, um mich zu vergewissern, dass kein Städter in der Nähe war. Dann zog ich die schwarze Binde ab. »Ist es so besser?«
»Wozu brauchst du die Binde?«
Ich antwortete nicht. Stattdessen schaute ich ihm ins Gesicht – mit meinem Wahren Blick. Doch noch bevor ich mir den Händler genau ansehen konnte, erzitterte dieser, als hätte er einen Schlag gekriegt, kramte hastig eine dunkle Brille aus seiner Jackentasche und setzte sie sich auf. Es war eine Art Sonnenbrille, mit verspiegelten Gläsern.
Durch diese Brille konnte ich nicht hindurchsehen.
»Ist es so besser?«, wiederholte der Händler meine Frage.
»Nein«, antwortete ich und band mir das schwarze Tuch wieder vor die Augen.
»Ich bedaure schon jetzt, dass ich mit dir handelseinig geworden bin«, sagte der Händler. »Bist du vielleicht einverstanden, wenn wir unsere Abmachung wieder vergessen?«
Na, der legte ja eine recht lockere Haltung an den Tag, wenn es darum ging, sein Wort zu halten!
»Nein, damit wäre ich nicht einverstanden!«
»Na gut. Wir brechen in zwei Stunden auf.« Der Händler drehte sich um und lief die Karawane ab. Wie er wohl in der Finsternis etwas sehen konnte? Mit dieser schwarzen Brille auf der Nase! Und wie hatte er das vorhin geschafft, ohne die Brille?
»Wir holen besser gleich unsere Sachen, Len«, sagte ich.
»Wir haben doch noch zwei Stunden…«
»Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Legen wir lieber einen Zahn zu!«
Wir rasten nach Hause. Dort schulterten wir die Rucksäcke (Len stopfte sich auch noch den Kater unters Hemd, denn ihn sollte vorläufig niemand zu Gesicht kriegen) und rannten zurück. Die Karawane setzte sich bereits in Bewegung. Die Begleitsoldaten – und zwar die alten wie auch die frisch angeheuerten – traten die Büffel, damit sie sich erhoben. Der Händler erläuterte den Erwachsenen etwas, die daraufhin erstaunt wirkten. Seine Frau und seine Tochter wanderten bereits die Straße hinunter, die aus der Stadt hinausführte, fast als wollten sie den anderen den Weg zeigen. Ich winkte dem Händler zu. Der tat so, als hätte er mich nicht bemerkt, verabschiedete sich von einigen Erwachsenen per Handschlag und folgte der Karawane.
»Len, komm!«, befahl ich.
»Meinst du nicht, wir sollten fragen, ob wir irgendwie helfen können?«
»Du bist ein schlechter Soldat, Len. Wer halst sich denn freiwillig Arbeit auf? Keine Angst, dieser Typ mit der schwarzen Brille hat uns nicht vergessen. Im Gegenteil, er denkt gerade an nichts anderes als an uns. Gehen wir!«
Wir hetzten der Karawane hinterher, wobei wir mit aller Gewalt den Wunsch unterdrückten, uns in die Luft zu erheben. Niemand verabschiedete sich von uns. Len winkte allerdings ein paar Jungen zu und erklärte mir, Iwons Junior stehe mitten in der Menge mit fassungsloser Miene. Wahrscheinlich dachte er an seinen blamierten Senior.