An den ersten drei Tagen bekamen wir überhaupt nichts zu tun. Die Karawane zuckelte über die Bergpfade, alle paar Stunden machten wir fünfzehn Minuten Pause. Mittags legten wir eine zweistündige Rast ein, außerdem billigte der Händler allen zehn Stunden Schlaf zu. Die Begleitsoldaten, die von Anfang an mit der Karawane unterwegs gewesen waren, beachteten uns kaum. Sie unterhielten sich nur miteinander, sprachen über Bekannte aus der Stadt – vermutlich die Stadt der Händler – und diskutierten darüber, wohin sie als Erstes gehen würden, wenn sie wieder nach Hause kämen. Die Erwachsenen aus unserer Stadt gaben sich schon freundlicher. Die ganze Zeit über sahen sie mich erstaunt an, denn ich hatte die schwarze Binde nicht abgenommen. Es sprach mich jedoch niemand darauf an.
Abends wurden die Zelte aufgebaut, die Händler und die Soldaten zogen sich in ihre Zelte zurück, abgesehen natürlich von denen, die Wache hielten. Die Männer aus unserer Stadt schlugen zwar ebenfalls Zelte auf, saßen jedoch die halbe Nacht zusammen in einem, wo sie schweren Wein aus einem Lederschlauch tranken, den der Händler ihnen jeden Abend aushändigte. Ihre Gespräche liefen immer wieder auf dieselben Themen hinaus: Wie toll sie damals hatten fliegen können, dass sie in ihrer Jugend wussten, was sie wert waren, und dass sie sich, sobald sie genügend Geld zusammenhätten, ein Häuschen an dem sonnigsten Fleckchen bauen würden, das man sich vorstellen kann. Dass sie irgendwann zurückkehren würden – das erwähnte keiner von ihnen.
Len und ich saßen auch bei den Erwachsenen, still und ein wenig abseits, und lauschten ihren Gesprächen. Sie behandelten uns freundlich, womöglich sogar mit Respekt. Mir wurde erst nach einer Weile klar, dass sich die Erwachsenen ihren eigenen Reim darauf machten, weshalb wir aus der Stadt weggingen. Sie glaubten, wir hätten es satt, gegen die Freiflieger zu kämpfen, und wollten nicht auf das Alter warten, wo man normalerweise mit den Händlern in eine neue Welt aufbricht, sondern schon jetzt unser Glück versuchen.
Den Sonnenkater versteckten wir nicht vor ihnen. Er tat allerdings so, als wäre er ein ganz normaler Kater, er sprach und flog nicht und ließ sein Licht so schwach wie möglich leuchten. In der Stadt hatte es auch Katzen gegeben, und deshalb verdächtigte niemand unseren Kater, ein Zauberer zu sein.
Nachdem wir die Erwachsenen verlassen und uns in unser Zelt begeben hatten, hielten wir einen kleinen Kriegsrat ab. Im Grunde gab es jedoch nichts, was wir durch Reden klären konnten. Wohin wir gingen, wussten wir immer noch nicht. Vor wem wir die Karawane eigentlich beschützen sollten – auch nicht. Die gesamte Familie des Händlers trug jetzt ständig schwarze Brillen, sodass wir sie nicht mit dem Wahren Blick sondieren konnten. Ich hatte mir die Soldaten mit dem Wahren Blick angesehen, dabei aber nichts bemerkt, was uns weitergeholfen hätte – denn hinter ihrer Fassade gab es absolut nichts zu entdecken. Bisher hatte ich immer gedacht, es sei gut, wenn man sein Wesen nicht versteckt, jetzt verstand ich jedoch: Wenn ein Mensch gar kein Geheimnis in sich trägt, weder ein gutes noch ein schlechtes, wirkt er am Ende wie tot.
Am dritten Tag passierte dann endlich was. Zuerst wurden die Begleitsoldaten unruhig. Irgendwann liefen zwei von ihnen weit voraus, kontrollierten alle verdächtigen Punkte entlang des Pfads, während drei andere den Himmel aufmerksam mit Blicken absuchten. Der Händler ging zu den Erwachsenen aus unserer Stadt, sprach mit ihnen und gab anschließend jedem fünf Taler, bei denen es sich um große, runde Scheiben aus einem durchsichtigen Stein handelte, vielleicht Kristall. Die Männer holten ihre Waffen heraus und mischten sich unter die Soldaten der Karawane.
Dann kam der Händler zu mir.
»Wird Zeit, dass ihr euer Geld verdient«, erklärte er mir anstelle einer Begrüßung.
»Dann bezahl uns erst«, erwiderte ich schulterzuckend.
Ohne jeden Widerspruch händigte der Mann mir zehn Taler aus, denen er nach kurzem Zögern zwei weitere hinzufügte. Ich steckte sie in die Tasche des Flügeloveralls. »Und wo sind sie gültig?«, wollte ich wissen.
»In unserer Stadt«, antwortete der Händler, der sich nicht im Geringsten über die Frage wunderte. »Seid ihr einsatzbereit?«
»Ja.«
»Wir kommen jetzt an ein sumpfiges Tal. In seiner Mitte liegt eine kleine Insel, auf der ein Turm steht.«
»Ein Turm der Freiflieger?«
»Ja. Wenn die Karawane den Rand des Tals erreicht, werden die Freiflieger zu uns herüberkommen und ich werde mit ihnen verhandeln. Normalerweise bereiten sie uns keine bösen Überraschungen, aber Vorsicht ist trotzdem angebracht. Deshalb möchte ich, dass ihr beide, du und dein Partner, den Weg durch das Tal überprüft. Das sind etwa zehn Kilometer. Überzeugt euch, dass wir nicht in einen Hinterhalt laufen. Danach kommt ihr beide zurück und passt auf meine Familie auf. Die Freiflieger dürfen euch nicht sehen.«
»Sie handeln also auch mit denen«, stellte ich fest.
»Andernfalls würde uns kein Schutz der Welt helfen. Darüber hinaus lohnt es sich für einen Kaufmann, mit allen Geschäfte zu machen. Das ist nun einmal mein Beruf.«
Es wäre dumm gewesen, es in dieser Situation auf einen Streit anzulegen. Und noch dümmer, ihm seine Profitgier vorzuhalten. Deshalb hüllte ich mich einfach in Schweigen.
»Noch eine Frage, mein Junge. Woher hast du den Wahren Blick?«
»Den haben Sie bemerkt?«, fragte ich zurück.
Der Händler nahm die Brille ab und fuchtelte damit herum. »Das ist Glas, in dem die Finsternis gefangen ist. Bei Licht kannst du mit dieser Brille überhaupt nichts sehen, dafür aber in der Dunkelheit umso besser. Außerdem bemerkst du die dunkle Seite der Menschen damit ganz hervorragend.«
»Dann haben Sie mich sondiert?«, fragte ich verärgert.
»Ich habe es versucht. Doch in deinen Augen liegt Wahres Licht, und das macht mich blind. Vermutlich stört die Finsternis in meiner Brille dich ebenfalls.«
Mit einem Mal brachte ich ihm eine Art Respekt entgegen. »Stimmt. Und deshalb traue ich Ihnen auch nicht.«
»Das ist dein gutes Recht. Es hat immer wieder Menschen gegeben, die uns, die Händler, für alles Unglück verantwortlich gemacht haben. Sie sind in unsere Stadt gekommen, um dort das Böse aufzuspüren, aber… Aber davon kannst du dich bald mit eigenen Augen überzeugen. Lass dir nur eines gesagt sein: Die Meinung, die du dir über uns gebildet hast, stimmt nicht.«
»Woher haben Sie die Brille?«, hakte ich nach. »Stellen die Freiflieger sie her?«
»Richtig. Und ich handle ja mit den Freifliegern. Gegenstände trifft nie die Schuld für irgendetwas und diese Brille der Finsternis kannst du für sehr gute Zwecke einsetzen. Ich würde auch mit Wahrem Licht handeln, wenn es in dieser Welt noch welches gäbe…«
»Es gibt ja wohl nur deshalb keines mehr, weil Sie es verkauft haben!«, schrie ich.
Daraufhin machte ich auf dem Absatz kehrt und stapfte zu Len. Der Händler mit seiner Moral konnte mir gestohlen bleiben! Ich handle mit allem, was Profit bringt! Gegenstände trifft nie die Schuld für irgendetwas! Den Quatsch bekamen wir auf der Erde auch zu hören, wenn Leute Waffen oder Drogen verkauften! Aber gut: Wenn wir erst mal in ihrer Stadt waren, würden wir schon alles rauskriegen!
»Len!«, rief ich, als ich meinen Junior sah. »Willst du deine eingerosteten Glieder etwas lockern?«
»Du willst fliegen?« Er lächelte unsicher.
»Ja. Unser werter Chef hat einen Auftrag für uns.«
Ohne weitere Fragen zu stellen, breitete Len die Flügel aus und erhob sich in die Luft. Mir entgingen die Blicke nicht, mit denen die Erwachsenen ihm nachsahen. Es wunderte mich nicht: Ich an ihrer Stelle wäre auch vor Neid geplatzt.