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Indem auch ich die Flügel ausbreitete, eilte ich Len nach. Im Flug riss ich mir sofort das schwarze Tuch von den Augen, stopfte es in die Tasche und spähte umher. Nachdem ich einen günstigen Luftstrom entdeckt hatte, ließ ich mich von ihm tragen.

»Wohin fliegen wir?«, fragte Len, nachdem er sich durch allerlei Luftlöcher gekämpft hatte und zu mir aufschloss.

»Wir checken den Karawanenpfad. Er führt zu einem Tal, wo…«

»… wo ein Turm der Freiflieger steht!«, schrie Len entsetzt.

»Ich weiß. Aber genau da will der Händler hin. Hast du etwa geglaubt, er würde den Rest seiner Waren in eine andere Stadt bringen? Oh nein! Das ist alles für die Freiflieger!«

Len sagte kein Wort mehr und flog den Pfad ab. Ich folgte ihm. Wir hielten uns tief, nur etwa zwanzig Meter überm Boden, um alle Spalten in den Felsen erkennen zu können. Einen Hinterhalt machten wir nicht aus. Mir war das sofort klar geworden, denn mit meinem Wahren Blick hätte ich die in Finsternis gehüllten Freiflieger selbst dann entdeckt, wenn sie sich versteckt hätten.

Als wir aus der Schlucht herauskamen, durch die der Pfad führte, lag vor uns der Sumpf. Genauer gesagt ein Tal, in dem eine dreckige Brühe stand, von der ein scharfer Geruch aufstieg, den wir sogar oben in der Luft rochen.

»Da drüben ist der Turm der Freiflieger«, sagte Len und drosselte das Tempo. Wir schwebten nebeneinander. Ich suchte die Gegend vor uns ab – und sah zum ersten Mal in meinem Leben eine Behausung der Freiflieger.

Mitten im Sumpf lag eine kleine, felsige Insel. Auf ihr erhob sich ein schmaler Turm, der aus dem gleichen grauen Gestein errichtet worden war. Er wirkte gar nicht so düster und dürfte an die vierzig Meter hoch gewesen sein. An der Turmspitze befand sich ringsum eine schmale Plattform, von der aus die Freiflieger vermutlich starteten.

Langsam flogen wir näher. Der Turm wirkte wie tot. Erst als uns nur noch zwanzig Meter von ihm trennten, entdeckte ich die schmalen Fenster. Vielleicht waren das aber auch Schießscharten. Aus ihnen quoll Finsternis.

»Lass uns zurückfliegen, Len«, flüsterte ich. Der Anblick des Turms brachte mich halb um den Verstand.

»Sollen wir denn nicht angreifen?«, fragte Len mit bebender Stimme.

»Wozu das? Der Händler will sich doch gar nicht mit denen anlegen, er hat bloß einen Hinterhalt befürchtet.«

»Aber wir… wir kämpfen doch gegen sie!«

»Len, die Einnahme von einem einzigen Turm entscheidet nicht über Sieg und Niederlage in diesem Krieg. Wie viele Freiflieger hocken wohl da drin?«

»Ich weiß nicht. Manchmal leben sie allein, manchmal zu mehreren…«

Von dem Turm ging Kälte aus. Außerdem spürte ich einen Blick, einen finsteren Blick voller Hass, der die Nacht durchbohrte. Als ob in einer der Schießscharten die schwarze Brille des Händlers funkeln würde.

»Fliegen wir zurück!«, schrie ich und machte kehrt. Len schlug mit den Flügeln und stieg höher. Gerade rechtzeitig. Aus der Schießscharte, in der ich diesen Blick wahrgenommen hatte, pfiff ein kurzer Pfeil heraus. Er hätte Len getroffen, wenn der nicht eben seine Position gewechselt hätte, und segelte dann in den Sumpf.

Mit einer Höllengeschwindigkeit schossen wir vom Turm weg. Auch Len hatte jetzt offensichtlich genug. Diesmal passte er sogar geschickt einen Luftstrom ab – fast als hätte ihm die Angst den Wahren Blick verliehen – und ich holte ihn erst über den Felsen wieder ein. Mit angelegten Flügeln jagten wir über die Schlucht zurück zur Karawane.

»Wie ich die hasse!«, rief Len mir zu. »Ich hasse sie einfach, Danka! Meinst du, dass sie sterben, wenn wir das Licht wiederhaben?«

»Ich weiß es nicht«, rief ich zurück. »Vielleicht können sie rechtzeitig abhauen. Vielleicht sterben sie aber auch. In ihnen wohnt die Finsternis, deswegen müssen sie das Licht fürchten…«

Im Gleitflug landeten wir mitten in der Karawane. Ich bemerkte, dass einige der Begleitsoldaten mit ihrer Armbrust auf uns zielten, zumindest so lange, bis sie uns als Flügelträger erkannten.

Der Händler kam mit raschen Schritten auf uns zu.

»Die haben aus dem Turm heraus auf uns geschossen!«, fuhr Len ihn an. »Und Sie wollen mit denen Geschäfte machen!«

»Weshalb seid ihr überhaupt in die Nähe des Turms geflogen?«, wollte der Händler wissen. »Das habe ich nicht von euch verlangt, Jungs. Ihr solltet lediglich den Pfad überprüfen.«

Len gab klein bei. Flügelträger schienen es mit der Disziplin ja sehr genau zu nehmen.

»Ich fürchte, damit habt ihr ein großes Probleme heraufbeschworen«, fuhr der Händler fort. »Aber gut, das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Du, Junior, wirst auf meine Tochter aufpassen, und du…« Er nickte mir zu. »… auf meine Frau.«

Diese Aufteilung sollte mir recht sein. Rasch zogen Len und ich uns zurück, damit wir uns nicht noch weitere Kritik einfingen. Len blickte noch einmal wütend zu dem Händler hinüber, der bereits mit den Soldaten sprach, knöpfte den Flügeloverall auf und holte den Sonnenkater heraus.

»Sieh an, du hast uns Gesellschaft geleistet!«, sagte ich verblüfft.

»Du staunst?«, erwiderte der Kater mürrisch, nachdem er auf den Boden gesprungen war. »Ich habe auch gestaunt – als jemand ohne mein Einverständnis in die Luft stieg und mich dabei immer noch im Overall trug. Mir blieb nichts anderes übrig, als euch zu begleiten, mich an der Landschaft zu ergötzen, an den sumpfigen Düften und eurem rasanten Rückflug.«

»Tut mir leid«, murmelte Len verlegen. »Aber was sollen wir denn jetzt machen?«

»Genau das, was der Händler euch befohlen hat. Schließlich steht ihr in seinen Diensten. Und mir gönnt unterdessen das Vergnügen, mich ein wenig aus eigener Kraft zu bewegen.«

Der Sonnenkater schlängelte sich zwischen den gemütlich trottenden Tieren hindurch und verschwand in die Berge. Doch wie sehr er sich auch anstrengen mochte, sein Fell leuchtete immer noch ein wenig. Nur gut, dass im Moment alle beschäftigt waren.

»Gehen wir, Junior«, sagte ich. »Kümmern wir uns um den Schutz von Frauen und Kindern!«

»Du hast gut reden«, zischte Len. »Diese… Händlertusse… die wird dich nicht mal anschauen! Aber die Tochter wird mir schon nach fünf Minuten zum Hals raushängen.«

Doch da sollte Len sich irren. Keine Ahnung, wie schnell er von dem Mädchen die Nase voll hatte, aber mir raubte die Frau des Händlers in kürzester Zeit den letzten Nerv.

Als ich zu ihr kam, legte sie gerade ihre Waffen an. Aus einem Beutel hatte sie ein kurzes, breites Schwert ohne Scheide gezogen, das sie an einer Schlaufe ihres Gürtels befestigte. Anschließend betrachtete sie nachdenklich zwei Dolche. Offenbar wog sie ab, welches der bessere sei.

»Ich werde für Ihren Schutz sorgen«, erklärte ich ihr, wobei ich selbst merkte, wie dämlich meine Worte klangen.

Die Händlerin sah mich an, knüpfte beide Dolche an ihren Gürtel und antwortete: »Wenn du meinst.«

Wie ein absoluter Vollidiot trottete ich hinter ihr her. Nach ein paar Schritten drehte sich die Frau noch mal zu mir um. »Wie alt bist du, mein Junge?«, fragte sie.

»Dreizehn.«

»Da musst du ja schon eine ungeheure Kampferfahrung haben, oder?«

»Nein, noch nicht so viel.«

»Gibt es denn nicht etwas, das du lieber machen möchtest als kämpfen?«

»Ja, den Befehl verweigern!«, stieß ich hervor.

»Oho!« Die Händlerin brach in Gelächter aus. »Du bist nicht ohne, junger Mann. Hat Reata auch so einen Beschützer?«

»Was?« Ich begriff nicht, wovon sie redete.

»Reata. Meine Tochter. Hat sie auch Schutz bekommen?«, wiederholte die Frau, als spreche sie mit einem Schwachkopf.

»Ja. Len passt auf sie auf.«

»Kinder…«, seufzte sie mitleidig. »Dabei müsste man doch eigentlich auf euch aufpassen… Lassen eure Mütter euch denn einfach so ziehen?«