»Was geht Sie das an?«, giftete ich. »Spielen Sie hier nicht die große Wohltäterin! Unser Blut, das ist es doch, wovon ihr Händler dick und fett werdet! Am liebsten würde ich euch allen ins Gesicht spucken!«
»Du armer Junge!«, sagte die Frau. »Keine Sorge, ich nehme dir das nicht übel.«
Sie ging weiter, ich stapfte ihr nach, wobei ich auf sie, mich selbst und sogar auf Len wütend war. Es dauerte ewig, bis die Karawane die Schlucht durchquert hatte und endlich am Rand des Sumpfs haltmachte. Freiflieger waren nirgends zu entdecken. Wir warteten.
»Warum trägst du eine so merkwürdige Brille?«, fragte mich die Frau plötzlich. Im ersten Moment begriff ich nicht mal, dass sie das schwarze Tuch meinte, das ich mir vor die Augen gebunden hatte. Es erinnerte wirklich an die Brillen der Flügelträger, nur dass du eben nichts dadurch siehst.
»Das ist das neueste Modell«, behauptete ich. »Das haben wir selbst entwickelt, ohne eure Hilfe.«
»Und kann man damit gut in der Dunkelheit sehen?«
»Ganz hervorragend! Wie können Sie eigentlich ohne Ihre schwarze Brille sehen?«
»Ich trage Linsen«, erklärte mir die Frau. »Sie funktionieren wie eine Brille, werden aber direkt auf das Auge gesetzt.«
»Ich weiß, was Kontaktlinsen sind«, erwiderte ich. Insgeheim war ich etwas enttäuscht: Mehr steckte also nicht hinter dem Sehvermögen der Händler!
Die Frau sah mich verwundert an, sagte jedoch kein Wort. Schließlich wandte sie sich dem Turm zu.
»Offenbar kommen sie jetzt zu uns… Siehst du sie auch?«
Das tat ich. Die verschwommenen Schatten der Freiflieger ließen sich von der Turmspitze in die Tiefe fallen, breiteten die Flügel aus und steuerten auf uns zu. Normalerweise hätte ich sie noch nicht erkennen können, dazu stand der Turm zu weit weg, doch ich hielt mit dem Wahren Blick Ausschau…
Es waren mindestens ein Dutzend. Jeder hielt einen funkelnden Metallgegenstand in Händen… Nein, das stimmte nicht ganz: Dieser Gegenstand schien zu funkeln, gleichzeitig aber auch völlig schwarz zu sein. Was war das schon wieder für ein Teufelsding?
»Fliegen die immer mit ihren Schwertern in der Hand?«, fragte ich mit zittriger Stimme.
»Manchmal schon«, antwortete die Frau. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Die haben aber seltsame Schwerter«, meinte ich, ohne mir Gedanken darüber zu machen, dass meine Unwissenheit verdächtig wirken könnte. »Als wären sie aus… blendender Dunkelheit gemacht…«
»Was sagst du da?!« Die Frau des Händlers packte mich bei den Schultern, starrte mir ins Gesicht und war anscheinend kurz davor, mir das schwarze Band runterzureißen. Dann wandte sie sich wieder ab. »Sie tragen die Schwerter der Finsternis!«, schrie sie. »Sie greifen an! Zu den Waffen!«
2. Die Entscheidung
Als die Freiflieger über die Karawane herfielen, wusste ich nicht, was ich eigentlich tun sollte. Jemanden beschützen – das sagt sich so leicht! Wie sollte das aussehen, im Falle eines Angriffs aus der Luft? Sollte ich selbst hochfliegen? Aber wenn ich knapp über dem Boden herumschwirren würde, böte ich das ideale Ziel für die Freiflieger. Wenn ich dagegen höher steigen würde, bliebe die Frau des Händlers ohne Deckung.
Und egal, wie sauer ich auf sie war, sie blieb nun mal ein Mensch – den zu verteidigen ich versprochen hatte.
Deshalb blieb ich einfach neben ihr stehen. Die Begleitsoldaten und die Männer aus der Stadt schossen mit ihren Armbrüsten auf die Feinde. Besonders viel brachte das nicht, es war schwer, mit diesen klobigen Pfeilen ein bewegliches Ziel am Himmel zu treffen. Immerhin trauten sich die Freiflieger nicht näher an uns heran. Sobald sie versuchten, die Packsäcke von einem der Tiere zu ziehen, wurden sie sofort von mehreren Männern angegriffen. Die Tiere selbst reagierten nicht auf den Angriff; vermutlich hatte man ihnen beigebracht, nicht vor den Freifliegern zu erschrecken. Langsam beruhigte ich mich wieder, denn offenbar hatten die Freiflieger nur ein Zieclass="underline" ein paar Säcke mit Waren zu klauen.
Die Frau des Händlers war aber wohl anderer Ansicht. Kampfbereit stand sie da, das blanke Schwert mit beiden Händen gepackt. »Junge, wo ist Reata?«, schrie sie.
»Woher soll ich das wissen?«
»Wo sind Reata und dein Freund? Finde sie!«
»Ich habe den Befehl, Sie zu beschützen«, antwortete ich. In dem Moment sah ich, wie zwei Schatten vom Himmel auf uns herunterschossen. »Achtung! Weg!«
Wir stürzten in unterschiedliche Richtungen davon und zwischen uns setzten die Freiflieger hart auf dem Boden auf. Sie trugen Masken vorm Gesicht, sodass ich nicht erkennen konnte, wie alt sie waren. Ihrem Körperbau nach mussten sie aber schon erwachsen sein.
»Keinen Widerstand!«, warnte mich der Freiflieger, der auf mich zukam. »Macht, was wir sagen!«
Der andere trat an die Frau des Händlers heran. Ihr furchtloses Lächeln und die Geschicklichkeit, mit der sie das Schwert bewegte, signalisierten mir jedoch, dass die Freiflieger kein leichtes Spiel mit ihr haben würden. Ich breitete die Flügel aus und stieg in die Luft.
Darauf hatte mein Gegner anscheinend nur gewartet. Mit einem seltsamen, lang gezogenen Schrei setzte er mir nach. Er schlug heftig, aber ungeschickt mit den Flügeln und kämpfte sich durch den Abwind. Was für ein Idiot! Ich zückte mein Schwert und attackierte meinen Feind.
Er quittierte meinen Angriff mit seiner Klinge aus lodernder Finsternis. Mit einer verzweifelten Bewegung fuhr ich herum, sodass das Schwert des Freifliegers zum Glück nur den linken Flügel traf.
Niemals hätte ich vermutet, dass du den Schmerz eines verletzten Flügels spürst! Mir kam es vor, als ob das Schwert der Finsternis direkt meinen Arm getroffen hätte und meine Schulter abgesäbelt worden wäre! Mit letzter Kraft stieg ich höher, brachte einen sicheren Abstand zwischen mich und den Freiflieger und riss mir das schwarze Tuch von den Augen. Jetzt musste mir der Wahre Blick uneingeschränkt zur Verfügung stehen!
Der Freiflieger nahm entschlossen die Verfolgung auf. Allerdings befand er sich in einer miserablen Position, nämlich unter mir. Dafür konnte wiederum mein Schwert mit seiner Monsterwaffe nicht mithalten. Ich breitete die Flügel aus und starrte den Freiflieger an, wobei ich versuchte, seine Bewegungen zu erahnen. Unsere Blicke trafen sich.
Mit einem entsetzten Schrei ließ der Freiflieger sein Schwert fallen, hielt sich die Hände vors Gesicht und stürzte in die Tiefe. Erst kurz über dem Boden breitete er die Flügel aus und flog unsicher und ruckelnd über den Sumpf zum Turm.
Ich jagte ihm nicht nach. Stattdessen eilte ich der Frau des Händlers zu Hilfe. Aber sie schien meine Hilfe nicht zu brauchen. Mit ihrem kurzen Schwert wehrte sie jeden Schlag des Freifliegers ab. Der stolperte bereits zurück. Als er das Schlagen meiner Flügel hörte, drehte er sich nach mir um. Prompt griff die Frau des Händlers nach einem ihrer Dolche und warf ihn nach ihrem Gegner.
Leise aufwimmernd schlug der Freiflieger mit den Flügeln, als wolle er sich gleich in die Luft erheben. Das gelang ihm jedoch nicht. Wie ein Sack Kartoffeln plumpste er zu Boden. Die Klinge war ihm zwischen den Schulterblättern eingedrungen. Ich hatte den Eindruck, als würde aus seiner Wunde wässriger Rauch aufsteigen. Der Freiflieger krampfte sich zitternd zusammen und verstummte.
Genau in diesem Moment erfüllte Flügelschlagen die Luft. Die Freiflieger, die bis eben noch mit den Soldaten gekämpft hatten oder als schweigende Schatten tief über der Erde gekreist waren, stiegen nun alle zugleich auf und zogen sich zum Turm zurück.
»Es ist doch immer dasselbe«, meinte die Frau mit ruhiger Stimme. »Man braucht bloß einen von ihnen auszuschalten, dann geben sie auf…«
Ich sah erst sie an, dann den toten Freiflieger. Der schien zu verschrumpeln, mit dem Boden zu verwachsen, seine aus Finsternis bestehenden Flügel fielen ab und legten sich in weichen Falten um den Körper.