In unserer Welt befand sich die Verborgene Tür ebenfalls in einem Turm. Einige der Spaziergänger drehten sich schon verwundert nach mir um: Was war denn das für ein Junge, mit dem seltsamen schwarzen Overall und den funkelnden Augen? Ein Milizionär mit kurzem Haar, der eben noch gelangweilt durch die Menge stolziert war, drängte sich plötzlich entschlossen in meine Richtung. Bis ich dem erklärt haben würde, was Sache war, das konnte dauern!
Und wie ich da so auf der Schwelle der Verborgenen Tür stand, hinter mir der stinkende eiskalte Sumpf, vor mir die warme, stickige Luft der Großstadt, begriff ich mit einem Mal, dass ich niemandem etwas erklären würde.
Klar hatte ich Heimweh. Vielleicht war ich auch ein Feigling – dann aber höchstens ein kleiner. Doch ein Arschloch war ich mit Sicherheit nicht!
Ein letztes Mal ließ ich den Blick über den Roten Platz schweifen und starrte auf ein großes Kaufhaus gegenüber und auf die alten Pflastersteine unter mir. Dann trat ich einen Schritt zurück. Die Verborgene Tür schlug zu, als hätte sie nur auf diese Entscheidung gewartet.
»Sollen die Leute doch denken, sie hätten eine Halluzination gehabt«, sagte ich zu mir selbst, während ich zuschaute, wie die Holztür langsam unter Steinen verschwand. »Vielleicht komme ich ja später noch mal her…«
Aber ein Gefühl sagte mir, dass ich diese Tür nie wieder öffnen würde.
Auf watteweichen Beinen, die mir fast wegknickten, umrundete ich den Turm der Freiflieger.
Türen gab es hier keine. Überhaupt keine. Weder richtige noch verborgene. Wozu auch? Den Freifliegern genügte ja die Plattform oben an der Spitze!
Aber es gab ja noch die Fenster! Für einen Erwachsenen waren sie zu schmal. Für mich jedoch nicht!
Eines der Fenster lag ziemlich weit unten, etwa auf der Höhe meines Kopfes. Ich schaute hinein – und prallte zurück.
Düsternis. Dichte, schwarze und undurchdringliche Düsternis. Erst nach ein paar Sekunden begriff ich, dass in das Fenster Glas eingesetzt war, genau wie bei der Brille des Händlers. Ich schlug mit der Faust dagegen, was jedoch überhaupt nichts brachte. Daraufhin holte ich mein Schwert heraus und stieß mit der Klinge ein paar Mal gegen die Scheibe.
Irgendwann nahm ich den Griff des Schwerts.
Nichts! So leicht war die Dunkelheit nicht zu zerschlagen.
Ich stand am Fuß des Turms und wusste ganz genau, dass mir die Zeit davonlief. Entweder würde ich jetzt in den Turm vordringen – oder ich würde hier niemanden mehr retten.
Ich sah auf das Fenster, und ein mit Angst vermischter Hass kochte in mir hoch. Diese Scheibe sollte jetzt endlich kaputtgehen! Ich musste sie zerschlagen! Und das würde ich auch schaffen!
Das schwarze Glas, das das schmale Fenster ausfüllte, erzitterte. Als ob mein Blick stärker wäre als meine Faust oder mein Schwert. Normalerweise hätte ich mich darüber gewundert – und damit wahrscheinlich alles verpatzt! Aber im Moment wunderte mich gar nichts. Ich starrte auf das schwarze Glas, das sich unter meinem Blick krümmte und bog, bis die Scheibe ein leises Knacken von sich gab und zersplitterte und in Tausenden von winzigen Scherben herausflog.
Und jetzt blieb mir keine Zeit mehr, mich zu wundern. Rasch reckte ich mich, zog mich hoch und zwängte mich durch das Fenster in den Turm.
Ich landete in einem kleinen Raum. An der Wand steckte in einer Halterung eine Fackel, die mit einer purpurroten, fast schwarzen Flamme brannte. Ich spürte, wie ein eisiger Atem von der Fackel ausging und über meine Haut strich.
Ansonsten gab es in diesem Zimmer nichts und niemanden. Eine Tür führte hinaus, direkt unter der Decke befand sich ein winziges, vergittertes Fenster, das in das Innere des Turms ging. Vermutlich diente es der Lüftung.
Wo war Len? Wahrscheinlich oben im Turm. Ich stieß gegen die Tür, doch die gab nicht nach.
Sollte ich sie zerschlagen? Würde mir das gelingen? Immerhin bestand diese Tür bloß aus Holz, nicht aus dem Glas der Finsternis… Ich blickte zu den Scherben des Fensters hinüber – und nun wunderte ich mich doch noch: Das waren ja ganz normale Scherben! An einigen klebte allerdings eine dunkelrote oder schwarze Flüssigkeit – wo auch immer die herstammen mochte.
Ich weiß nicht, was ich unternommen hätte, wenn es in diesem Raum nicht so totenstill gewesen wäre. Diese Grabesstille herrschte im ganzen Turm, nur durch das Fenster wehte leise der Wind. Und plötzlich hörte ich, wie jemand stöhnte, ganz leise nur. Das Geräusch kam durch das vergitterte Fenster unter der Decke.
Wie konnte ich nur so dämlich sein! Natürlich schloss man Flügelträger nicht oben im Turm ein, die wurden tief unten eingesperrt. Der Raum, in dem ich stand, war eine Zelle! Genau wie der Raum nebenan – aus dem Lens Stöhnen zu mir herüberdrang.
3. Die Verwandlung
Zu dem kleinen Fenster unter der Decke gelangte ich ohne große Mühe. Die Wände waren im Innern aus den gleichen unbehauenen Steinen errichtet wie außen, sodass es das reinste Vergnügen war, an ihnen hochzukraxeln. Allerdings konnte mich das Licht in meinen Augen verraten – und das Tuch hatte ich weggeworfen.
Nur gut, dass ich mit meinem Wahren Blick auch bei geschlossenen Augen sehen konnte.
Ich hielt mich am Gitter fest und spähte in die Nachbarzelle. Alles in mir drin gefror.
Als Erstes sah ich Len. Er lag auf einem Eisentisch mitten im Zimmer, ohne seinen Flügeloverall, völlig nackt, nur die Brille hatten sie ihm gelassen. An den Ecken des Tischs ragten irgendwelche Haken heraus, an die Lens Arme und Beine mit Lederriemen gefesselt waren.
Etwas abseits kauerten zwei Freiflieger auf dem Fußboden. Sie sprachen leise miteinander.
»Der, der geleuchtet hat, ist entkommen.«
»Die Jagd auf ihn ist in vollem Gange.«
»Woher hat er Wahres Licht? Wer ist er?«
»Wenn wir ihn fangen, werden wir es wissen. Wenn nicht, soll der Gegenwärtige sich etwas einfallen lassen.«
»Das ist seine Pflicht.«
»Richtig. So, wie es unsere Pflicht ist, für Nachwuchs zu sorgen.«
»Dann lass uns anfangen.«
Die Freiflieger erhoben sich, gingen rüber zur Wand, wo auf Regalen kleine Flaschen und Gläser mit trüben Flüssigkeiten standen, wo außerdem Instrumente herumlagen, die fürchterlich aussahen, und wo kleine Schalen und Bleche hingen. Sorgfältig wählten sie ihre Utensilien aus. Dann kehrten sie zum Tisch zurück.
Len bäumte sich auf, konnte sich aber natürlich nicht losreißen.
»Keine Angst«, sagte einer der Freiflieger, dessen Stimme mir bekannt vorkam. Ach ja, mit dem hatte ich gekämpft! »Wehr dich nicht! Wenn du aus freien Stücken zum Freiflieger werden willst, ist es viel einfacher für dich.«
»Und es tut nicht so weh«, fügte der zweite Freiflieger hinzu, der auf dem Tisch neben Len zunächst Messer ausbreitete, die klein wie Skalpelle waren, dann Haken aus Stahl, leere Glasgefäße, zwei kleine Schalen…
»Ihr Schweine!«, zischte Len. »Ihr dreckigen Schweine! Ich hasse euch!«
»Aber nicht mehr lange«, versicherte mein einstiger Gegner, während er weitere Instrumente und Gläser ablud. Nur eine Phiole mit einer undurchdringlichen schwarzen Flüssigkeit behielt er in Händen. »Schon heute Abend wirst du einer von uns sein.«
»Pah, eure Stunden sind gezählt«, konterte Len. »Danka und der Kater werden uns die Sonne zurückbringen…«
Doch als er leise anfing, zu weinen, wusste ich, dass mein Junior nicht mehr mit Hilfe rechnete. Er hatte jede Hoffnung auf Rettung bereits aufgegeben.
»Die Sonne kommt nicht zurück«, sagte der zweite Freiflieger ganz ruhig. »Unsere Vorfahren haben sie verkauft. Was richtig war. Die Finsternis ist besser.«