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»Möchtest du wissen, was jetzt mit dir passiert?«, fragte der andere.

»Nein!«, schrie Len, dem immer noch Tränen über die Wangen kullerten.

»Komisch. Dabei warst du doch immer ein neugieriger Junge, Len.«

Len fuhr zusammen und hörte auf, zu heulen. Er hob den Kopf und versuchte, dem Freiflieger ins Gesicht zu sehen. »Woher kennst du mich?«

Daraufhin musterte ich den Freiflieger mit dem Wahren Blick – und erkannte ihn.

»Ich bin Iwon«, antwortete der Freiflieger sachlich. »Jedenfalls hieß ich früher so. Iwon. Ich wollte sogar mal dein Senior werden.«

Mit aller Kraft zog ich an den Gitterstäben. Die gaben kein Stück nach. Die Freiflieger hatten beim Bau des Turms ganze Arbeit geleistet.

»Du… du…«, setzte Len an.

»Genau, ich! Dein Senior hat mich in den Bergen ohne Flügel zurückgelassen. Bin den Freifliegern in die Hände gefallen. Und bin glücklich darüber, dass es so gekommen ist. Hab mir das tief in meiner Seele immer gewünscht.«

»Du hast dir das gewünscht? Warum?« Erneut zerrte Len an den Riemen. Aber es war völlig nutzlos.

»Ich will immer fliegen können. Will die Leichtigkeit des Flugs erleben. Auch noch als Erwachsener. Willst du wissen, wie ich ein Freiflieger geworden bin?«

Len nickte wie hypnotisiert.

»Sie haben mir die Augen herausgenommen«, berichtete Iwon ungerührt. »Nicht auf einmal, sondern nach und nach. Damit der Schmerz das Licht der Augen in Finsternis verwandelte. Dann haben sie aus ihnen das Elixier für das Glas der Finsternis gewonnen.«

Len warf den Kopf von einer Seite auf die andere.

»Danach haben sie mir das Herz herausgenommen«, fuhr Iwon fort. »Wieder ganz langsam. Damit das ganze Licht aus ihm in die Finsternis einging. Aus unserem Herz machen sie ihre Flügel. Solche, die jeden tragen können, nicht nur ein Kind.«

»Wozu willst du ohne Herz fliegen?«, hauchte Len. Iwon überhörte die Frage.

»Sie haben mein ganzes Blut abgelassen. Aus ihm gewinnen sie das Schwarze Feuer, mit dem wir euch in den Bergen so hübsch anzünden. Wenn der Gegenwärtige es erlauben würde, hätten wir damit längst all eure Städte in Schutt und Asche gelegt. Das Blut wird ganz langsam abgezapft, denn auch aus ihm muss alles Licht herausgepresst werden.«

»Bei dir hätten sie ruhig schnell machen können«, meinte Len mit einem Mal ganz ruhig. »Du hattest sowieso nie Licht in dir, weder in den Augen noch im Herzen oder im Blut.«

Bravo, Len! Iwon zuckte zusammen, als hätte er eine gewischt bekommen. Trotzdem fuhr er mit derselben gleichmütigen Stimme fort: »Soll ich dir die ganze Prozedur schildern? Wir nehmen dir viel, damit du leichter fliegen kannst. Und wir bekommen viel – das wir den Händlern verkaufen oder dir selbst zurückgeben. Du siehst, du brauchst keine Angst zu haben…«

Beinahe wäre ich drauf reingefallen und hätte gedacht, Iwon wolle Len tatsächlich mit diesen Worten beruhigen. Aber da brach er plötzlich in ein krächzendes, gemeines Lachen aus, das mir zeigte: Ihm machte das Spaß. Er genoss es, Len zu quälen. Er war einfach ein Sadist. Schon immer gewesen – selbst als er noch ein Flügelträger gewesen war.

Warum hatte ich ihn damals nicht umgebracht?

»Du redest zu viel«, meinte der andere Freiflieger plötzlich. »Man merkt, dass du noch bis vor Kurzem ein Mensch gewesen bist. Lass das lieber.«

»Das muss sein«, zischte Iwon. »Ich kenne die Menschen besser als du. In dem hier wächst jetzt Finsternis. Aus Angst. Weil er die Schmerzen ahnt, die ihm bevorstehen. Ich weiß das.«

»In mir wird es nie Finsternis geben!«, schrie Len. »Ich werde nämlich einfach während eurer Folter sterben!«

»Wirst du nicht. Man stirbt nie ganz«, erläuterte Iwon. »Siehst du das hier?«

Er hob die schwarze Phiole, die er in Händen hielt.

»Das ist Schwarzes Feuer. Schwach und verdünnt. Das verbrennt dich nicht, wenn wir es dir einflößen. Das brennt bloß den Menschentod und jedes Menschengefühl in dir aus. Aber das ist nur der erste Schritt. Siehst du diese Phiole?«

Iwon streckte die Hand aus und riss Len die Brille von der Nase. »Und jetzt siehst du nichts mehr«, triumphierte er. »Bis dir die Finsternis neue Augen gibt.«

Abermals versuchte ich das Gitter herauszureißen – vergeblich. Ich konnte mich nicht länger halten und rutschte auf den Boden, wobei mir völlig egal war, ob die nebenan mich hörten oder nicht. Ich rannte zur Tür und rüttelte an ihr. Was um alles in der Welt sollte ich tun? Gegen die Wand hämmern, während sie… Nein, nicht während sie meinen Freund töteten oder folterten, sondern während sie ihn in ein Monster verwandelten?

»Denk an jemanden, den du liebst«, hörte ich eine Stimme auf der anderen Seite der Wand. »Denk an ihn, damit das Schwarze Feuer aus der Liebe eines Menschen die Liebe eines Freifliegers macht. Dann findest du leichter Freunde, die du zu uns führst.«

»Ich werde nicht an dich denken, Danka!«, brüllte Len in einer Weise, dass mein Herz kurz aussetzte. »Das werde ich nicht!«

Dann verstummte er, als halte ihm jemand den Mund zu. Auch ich schrie etwas und trat mit voller Wucht gegen die Steinwand, um sie zum Einsturz zu bringen – oder selbst zu sterben.

Die Sekunden dehnten sich in alle Ewigkeit aus. Mit einem Mal erblickte ich die ganze Wand, jeden Stein, jeden Krümel des schwarzen Mörtels, der die Ziegel aufeinanderhielt. Und die purpurroten Punkte, die zwischen den Steinen funkelten. Der Mörtel enthielt wohl Schwarzes Feuer, das wiederum aus Menschenblut hergestellt wurde.

So viel Mühe die Freiflieger sich auch gaben – ganz pressten sie das Licht eben nie aus dem Blut!

Während ich auf die Wand einhämmerte, hielt ich den Wahren Blick fest auf einen dieser funkelnden purpurroten Punkte gerichtet. Die Steine wackelten und bebten, als wäre die ganze Wand bloß aus Bauklötzen für Kinder errichtet.

Nachdem ich die Wand eingerissen und mich wie durch ein Wunder vor den niederprasselnden Ziegeln gerettet hatte, stürmte ich in die Nachbarzelle.

Iwon hielt dem zitternden Len gerade den Mund auf und flößte ihm – unbeirrt von der einstürzenden Wand – eine dampfende, schwarze Flüssigkeit ein. Der zweite Freiflieger wählte einige Haken und Messer aus den Schalen. Als ich plötzlich vor ihnen auftauchte, erstarrten die beiden.

»Ihr Schweine!«, schrie ich und zog mein Schwert. Ohne eine Sekunde zu zögern, schlug ich auf den Freiflieger ein, der mir am nächsten stand, und brach ihm das Genick.

Das ging so leicht, es war, als ob ich nicht Fleisch zerhackte, sondern morsches Holz. Der Freiflieger fiel polternd zu Boden, wobei stinkender Dampf aufstieg. Als er aufschlug, war er bereits kein Mensch mehr – nicht mal ein ehemaliger –, sondern bloß noch schwarzes Gestein.

Lautlos huschte Iwon zur Tür. Die Phiole mit dem Schwarzen Feuer hielt er immer noch in den Händen. Er riss die Tür auf und hob den Arm, als wolle er sie auf mich schleudern.

Unsere Blicke kreuzten sich. Iwon schrie auf, genau wie beim letzten Mal, ließ die Flasche fallen und schlüpfte zur Tür hinaus. Klirrend zerbrach die Phiole. Auf der Schwelle züngelte eine Flamme in tiefstem Purpurrot auf.

»Len!«, flüsterte ich, als ich mich über meinen Junior beugte. »Len, ich bin da!«

Len warf den Kopf von einer Seite auf die andere und spuckte wie wild. Er trug ja keine Brille mehr und sah deshalb nicht, was um ihn herum passierte. Aber als ich ihn ansprach, blieb er reglos liegen. »Lauf weg, Danka…«, brachte er mit schwacher Stimme hervor.

»Wir fliehen zusammen!«, rief ich, während ich mit meinem Schwert seine Fesseln durchsäbelte. »Ich habe dir einen Flügeloverall mitgebracht. Bist du okay?«

Statt zu antworten, beugte Len sich über den Tisch und kotzte eine schwarze, dampfende Flüssigkeit aus. Danach stützte er sich auf meinen Arm, tastete unsicher mit den Füßen über den Boden und kletterte vom Tisch. »Hier sind zwei Freiflieger, Danka…«, warnte er mich.