»Hier sind eine Leiche und ein fliehender Feigling, aber keine Freiflieger. Zieh den Overall an!«
Ich half Len mit dem Flügeloverall und schob ihn zu der eingerissenen Mauer. Dort drehte ich mich noch einmal um, sammelte einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn auf die Regale mit all den Gefäßen.
Die Zelle verwandelte sich in eine Feuerhölle. Die wütenden, fast schwarzen Flammen kletterten die Wände hoch, die Steine schmolzen wie Wachs.
»Weg hier!«, schrie ich, während ich Len half, sich durch das Fenster zu zwängen. Ich eilte ihm nach und landete im Dreck. Len kniete da und kotzte wieder.
»Kannst du fliegen?«, fragte ich.
»Ich werde es versuchen«, versprach er matt.
Der Turm schwankte bereits. Durch die Mauerrisse schlugen schwarze Flammenzungen. Feuerströme flossen aufwärts und hüllten die Spitze des Turms in einen Funkenregen.
»Steh auf, Len! Wir müssen fliegen!«, schrie ich. »Fliegen, Junior!«
Len versuchte aufzustehen, fiel aber wieder hin. Wir durften keine Zeit verlieren. Ich packte ihn bei den Schultern, zog ihn hoch…
»Halte dich an mir fest!«
»Mit einer Last… kannst du nicht fliegen…«, hauchte Len kaum verständlich. Trotzdem legte er die Arme um mich und ließ alles mit sich geschehen.
Ich breitete die Flügel aus und riss mich, wenn auch mühevoll, vom Boden los. Im Flug gewann ich langsam an Höhe. Ein Aufwind hätte uns über den Turm gehoben, aber den passte ich nicht ab. Stattdessen flogen wir tief über dem Sumpf zurück.
»Versuch jetzt selbst zu fliegen, Len«, keuchte ich. »Len!«
»Ja, gleich«, antwortete er leise. Aber er machte keine Anstalten, aus eigener Kraft zu fliegen.
Hinter uns stürzte der Turm donnernd in sich zusammen. Als ich spürte, wie mir die Druckwelle in den Rücken schlug, blickte ich zurück. Über den lodernden Ruinen kreisten drei Freiflieger. Die anderen hatten es offenbar nicht geschafft, sich in Sicherheit zu bringen. Die drei Überlebenden schienen allerdings keine Lust zu haben, uns zu verfolgen.
»Halte durch, Len«, sagte ich. »Gib nicht auf. Wir müssen nur bis zu dem Felsen da drüben…«
»Ich gebe nicht auf«, versicherte Len.
Der Kater fand uns, zwanzig Minuten nachdem wir uns in den Bergen versteckt hatten. Ich fragte ihn gar nicht erst, wie er den Freifliegern entkommen war. Wir mussten an wichtigere Dinge denken.
Len lag auf den Steinen, die Beine an den Bauch gezogen, und stöhnte leise vor sich hin. Der Kater blickte ihn mit grimmiger Miene an, bevor er einen fragenden Blick auf mich richtete.
»Sie haben ihm mit Gewalt das Schwarze Feuer eingeflößt«, erzählte ich. »Am Anfang musste er bloß brechen, mehr nicht. Ich habe schon geglaubt, er hat es überstanden. Aber dann… dann ist er völlig zusammengebrochen.«
»Hat er etwas von dem Zeug getrunken?«
»Nur ein paar Schluck…«
Als Len leise hustete, langte ich nach seiner Hand. Wie konnte ich ihm bloß helfen?
»Die menschlichen Gefühle in ihm verbrennen jetzt«, sagte der Sonnenkater traurig. »Vielleicht gewinnt Len und er bleibt der Alte. Vielleicht stirbt er aber auch, wenn seine Kräfte nicht ausreichen. Oder aber…«
»Oder was…?«
»Oder er wird zum Freiflieger. Von seinem Charakter her. Aber solange er noch ein Menschenherz hat, kann er von Neuem lernen, zu Freundschaft und Güte fähig zu sein. Bisweilen glückt das.«
Ich beugte mich über Len. »Junior…«, flüsterte ich.
Mich traf ein trüber und hilfloser Blick. Len ging es hundsmiserabel. »Töte mich, Danka. Ich will kein… Freiflieger werden.«
»Red kein dummes Zeug!«, verlangte ich so entschieden wie möglich. »Halte durch, Len! Du schaffst es!«
»Nein, Danka… Zuerst hat es gebrannt, das hat zwar sehr wehgetan, aber das konnte ich aushalten… Aber jetzt ist alles in mir drin kalt. Alles gefriert zu Eis… Danka…«
»Was sollen wir bloß tun, Kater?«
»Wir müssen an ihn glauben«, antwortete der Kater schlicht. »An ihn glauben und ihn lieben. Selbst wenn das Schwarze Feuer siegt. Wir haben nichts anderes als unseren Glauben und unsere Liebe. Das wiederum ist sehr viel, wenn um dich herum nur Hass und Verzweiflung herrschen.«
Der Sonnenkater näherte sich Len mit sanften Schritten, legte sich auf seine Brust, rollte sich ein und fing an zu schnurren. Ich zögerte nur ganz kurz, bevor ich mich neben Len legte und ihn umarmte.
Diese Kälte. Sie kam von überall her. Aus dem Fels unter uns, vom Himmel, der sich wie ein grauer Schleier über uns spannte, und von Len, der zitterte, als leide er an Schüttelfrost. Von überall nur Kälte und Finsternis.
Wir hatten nichts außer unserer Liebe und unserem Glauben. Aber vielleicht reichte das ja?
»Halte durch, Len«, flüsterte ich, ohne eine Antwort von ihm zu erwarten. »Gib nicht auf, kämpfe! Wir lieben dich. Du wirst gewinnen.«
Doch um uns herum war nichts als Kälte und Finsternis. Für alle Zeiten würde ich gegen sie kämpfen, selbst wenn ich wieder zu Hause sein würde. Für alle Zeiten.
Sogar durch meine geschlossenen Lider sah ich, wie in Len das Schwarze Feuer loderte. Doch selbst im Schwarzen Feuer gibt es noch Funken des Guten, die nie erlöschen.
Keine Ahnung, wie lange wir so dalagen und Len mit unseren Körpern wärmten. Irgendwann schlief ich ein, und ich wachte erst auf, als Len sich bewegte und aufstand.
Der Kater und ich sahen uns an. Dann schauten wir beide zu Len rüber. Er betrachtete die Gegend und musterte anschließend seine Hände, als sähe er sie zum ersten Mal. Mein Herz zog sich zusammen.
»Wie geht es dir, Len?«, fragte ich, wobei ich panische Angst vor der Antwort hatte.
Len runzelte die Stirn und unter dem undurchdringlichen Visier rannen Tränen hervor.
»Bin ich jetzt ein Freiflieger, Danka? Ist jetzt alles aus?«
»Du Blödmann!«, schrie ich, während mein Angst sich von einer Sekunde zur nächsten in Freude verwandelte. »Du hast gewonnen! Ein Freiflieger würde eine solche Frage niemals stellen!«
»Und weinen würde er noch viel weniger«, fügte der Kater hinzu. »Du hast tatsächlich gesiegt, Len.«
Kraftlos sackte Len gegen den Stein neben uns zurück. »Das ist euer Sieg«, sagte er leise. »Ihr habt mich gerettet.«
»So ein Quatsch! Du hast wie ein Held gekämpft!«, versicherte ich eifrig. »Hast du Hunger?«
»Und wie!«, sagte Len.
Ich kramte aus meiner Tasche zwei zusammengerollte Alupäckchen. »Magst du Schokolade?«, fragte ich stolz.
»Was ist das?«
»Ich hab mir schon gedacht, dass diese gemeinen Händler euch keine liefern. Koste mal! Das ist lecker!«
»Der Händler hat sich zum Abschied durchaus großzügig gezeigt«, erklärte der Kater. »Die Schokolade ist aus seinem persönlichen Vorrat.«
»Nicht das geringste Krümelchen hätte der rausgerückt!«, widersprach ich. »Seine bescheuerte Tochter, diese Reata, hat darauf bestanden, dass er sie uns gibt.«
»Kein Wunder!«, meinte Len, während er die Schokolade auspackte. »Ich habe sie immerhin vor den Freifliegern gerettet! Die muss mir ihr ganzes Leben lang dankbar sein…« Verlegen sah er mich an, bevor er hinzufügte: »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll…«
»Dann lass es einfach«, meinte ich, während ich ein Stück von der Schokolade abbiss. Sie war anders als unsere, keine Tafel, sondern eher ein Tannenzapfen, sehr bitter und hart. Trotzdem schmeckte sie gut.
»Willst du auch was, Kater?«, fragte Len.
»Katzen essen nicht einmal die Schokolade aus Dankas Welt«, sagte der Kater stolz.
»Sie würden sie bestimmt nicht verschmähen – wenn ihnen jemand welche anbieten würde«, erwiderte ich, während ich ein Stückchen von meiner Schokolade für ihn abbrach. »Probier doch mal.«