Len, der sich mit der Tochter des Händlers unterhalten hatte, war auf mich zugekommen, ohne dass ich ihn bemerkt hatte. »Weshalb sind denn alle so begeistert?«, fragte er irritiert. »Das ist doch bloß eine Stadt wie jede andere auch, nur dass die Straßen mit grellen Laternen gespickt sind. Das blendet ja richtig.«
»Schieb das Visier hoch«, forderte ich ihn auf.
Und nun sah er, wie in der Finsternis die Straßenlaternen funkelten, die Fenster mit ihrem warmen Licht schimmerten und die Lampen auf den Jachten blinkten. Das Meer reflektierte die ganze Lichterpracht und verwandelte sie in ein weiches, buntes Tuch, das glitzernd auf den Wellen wogte.
»Wow!«, rief Len begeistert. »Klasse!«
In dem Moment wurde mir klar, dass er noch nie einen Sternenhimmel gesehen hatte oder eine hell erleuchtete Straße. Die Finsternis hatte ihn gezwungen, eine Brille zu tragen und sich mit der Dunkelheit abzufinden. Diese konnte allerdings auch schön sein – falls sich Licht in ihr versteckte.
»Warum sieht es bei uns nicht so aus?«, seufzte Len. »Warum nicht?«
Im Ausschnitt seines Overalls tauchte nun der Sonnenkater auf. »Weil ihr die Finsternis fürchtet«, mauzte er in belehrendem Ton.
»Aber das muss doch so sein! Und was regst du dich überhaupt auf – wo du doch selbst aus Licht bist!«
»Weil das Licht die Dunkelheit braucht«, antwortete der Kater mysteriös. »Ihr dummen, dummen Jungen, wann begreift ihr endlich, gegen wen ihr zu kämpfen habt…«
Daraufhin verschwand er wieder in Lens Ausschnitt.
»Kein Grund, mich zu kratzen«, blaffte Len beleidigt. »Was meinst du, Danka, erreichen wir die Stadt heute noch?«
Schön wär’s ja, überlegte ich und hielt nach Gabor Ausschau. Der heizte gerade den Soldaten ein, die sich daraufhin vom Anblick der Stadt losrissen und die verträumten Büffel weiterscheuchten.
»Gabor…«, setzte ich an.
Der Händler schmunzelte und winkte mit der Hand ab. »Keine Sorge, ihr braucht nicht die ganze Nacht mit uns zu verplempern«, sagte er grinsend. »Nehmt eure Sachen und verschwindet!«
Einen kurzen Moment glaubte ich, der Händler würde wieder in seinen Taschen kramen und mir noch ein paar Münzen geben. Ehrlich gesagt, hätte ich es ihm nicht krumm genommen.
Aber Gabor verzichtete auf jede Gefühlsduselei. »Fliegt schon los«, forderte er mich noch einmal auf.
Von ihm verabschiedete ich mich nicht. Seiner Frau winkte ich jedoch zu – schließlich hatten wir Seite an Seite gekämpft –, bevor ich an den Rand der Schlucht trat und die Flügel ausbreitete. Neben mir hüpfte Len ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Kann’s endlich losgehen?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich. »Wer ist als Erster bei…«
Die Dunkelheit, in der die Lichter der Händlerstadt schimmerten, umhüllte uns sanft. Diesmal benutzte ich beim Fliegen nicht den Wahren Blick, denn der hätte die Nacht kaputt gemacht – die mir zum ersten Mal so wahr und so gut vorkam wie zu Hause. Natürlich gewann Len unseren Wettflug. Er kreiste bereits über dem Stadtzentrum, als ich die Peripherie erreichte. Unter mir lagen ein- und zweistöckige Häuser, gedrungene und solide Bauten, in denen die Händler nicht nur lebten, sondern auch ihre Waren aufbewahrten. Die Menschen, die durch die Straßen spazierten, verdrehten den Kopf und schauten mir nach.
»Du lahme Ente!«, rief mir Len begeistert zu. »Dich hab ich aber abgehängt! Sind deine Flügel eingerostet?«
Das vermieste mir jedoch nicht die Stimmung.
»Lass uns auf dem Platz landen«, bat Len, als ich aufschloss. »Da gibt es Buden… Ich habe einen Wahnsinnshunger!«
»Wir landen besser im Hafen«, schlug ich vor. Sofort willigte Len ein. Bestimmt reizten ihn die Schiffe ebenfalls, denn wahrscheinlich hatte er noch nie welche zu Gesicht bekommen. Ich wusste immerhin aus Filmen, was Segeljachten waren.
So spreizten wir die Flügel und gingen am Hafen tiefer.
Die Hafenpromenade war kopfsteingepflastert. So gleichmäßig und glatt abgeschliffen, wie das Pflaster war, mussten hier schon unzählige Menschen gegangen sein. Bei der Landung rutschte Len prompt aus. Als er sich hochrappelte, rieb er sich fluchend ein Bein. Ich legte die Flügel an und sah mich um.
Auf der einen Seite erhoben sich graue Lagerhallen, auf der anderen schaukelten Schiffe auf dem Wasser. Uns blieb jedoch keine Zeit, sie näher anzusehen, denn drei Männer kamen mit schnellen Schritten auf uns zu.
Sie trugen komische Kleidung: lange Wollpullover, die fast bis zu den Knien reichten und unter denen kanariengelbe Hosen hervorlugten. Über den Pullover hatten sie ein ledernes Schultergehänge geschnallt, an dem ein kurzes Schwert baumelte. In mir spannte sich alles an.
»Len«, warnte ich meinen Junior leise. »Achtung!«
Len hörte sofort auf, über die missglückte Landung zu grummeln. Schulter an Schulter bauten wir uns auf, um die drei näher kommenden Männer in Empfang zu nehmen.
Sie erinnerten eher an die Männer aus Lens Stadt als an Händler. Auch ihre Schwerter entsprachen den Waffen aus Lens Stadt. Außerdem zeigten ihre Gesichter jene seltsame, unbewegliche Gleichgültigkeit, über die ich mich anfangs so gewundert hatte.
»Flügelträger«, konstatierte einer der drei. »Ohne Zweifel Flügelträger. Was treibt ihr denn hier, Jungs?«
»Wer will das wissen? Wer seid ihr überhaupt?«, fragte Len zurück. Sonderlich viel Respekt legten die Flügelträger den Erwachsenen gegenüber ja nie an den Tag.
»Wir stehen in Diensten der Stadt«, erklärte einer der Männer bereitwillig. Er war etwas älter als Shoky oder Iwon, dürfte also vor nicht allzu langer Zeit selbst noch Flügel getragen haben. »Und was hat euch in die Händlerstadt verschlagen?«
»Wir sind aus freien Stücken hier«, erwiderte Len in provozierendem Ton. »Oder ist das etwa verboten?«
»Natürlich nicht«, meinte unser Gegenüber. »Haltet euch nur vor Augen, dass es hier nicht wie in eurer Stadt ist, wo ihr alles umsonst bekommt. Hier müsst ihr bezahlen. Für die Unterkunft, das Essen, für alles, was ihr braucht.«
»Wir haben Geld«, verkündete Len stolz.
Mir war, als ob die drei auf diese Information sehr hellhörig reagierten. Ein Mann von etwa vierzig Jahren, der Älteste von ihnen, der bisher geschwiegen hatte, meldete sich zu Wort: »Für das Recht, sich in der Stadt der Händler aufzuhalten, werden Steuern erhoben. Zwei Taler von jedem.«
Len warf mir einen bedauernden Blick zu, zuckte die Schultern und wollte anscheinend schon bezahlen. Doch ich achtete nicht weiter auf ihn, sondern musterte die Männer. Vier Taler – hauten sie uns damit übers Ohr? Würden sie es tatsächlich wagen, nicht nur Erwachsene auszunehmen, sondern auch uns?
»Und wenn wir nicht zahlen, werdet ihr uns dann verfolgen?«, fragte ich. Dabei spreizte ich den Arm, damit sie den Stoff der Flügel sahen.
Etwas im Gesicht der Männer veränderte sich. Der Jüngste von ihnen beugte sich zu uns herunter. »Natürlich nicht, mein Junge, wo denkst du denn hin«, erklärte er mit weicher Stimme. »Aus welcher Stadt seid ihr?«
»Schichar«, antwortete Len. »Das liegt im Süden, am Fluss Dalal.«
Auf diese Weise erfuhr ich also, wie Lens Stadt hieß.
»Das kenne ich. Da bin ich schon einmal gewesen. Kennt ihr den alten Gert?«
»Klar!« Ob ich wollte oder nicht, ich musste grinsen.
»Wenn ihr zurückkehrt, grüßt ihn von Wokk. Wokk, das bin ich.«
Len und ich nickten synchron.
»Was wollt ihr denn nun bei uns, Jungs?«
»Wir sind aus reiner Neugier hier«, behauptete Len mit Unschuldsmiene. »Wir haben bei einem Händler als Begleitsoldaten angeheuert, für den Weg bis zur Stadt. Wir wollen einfach mal sehen, wie man hier lebt, mit der nächsten Karawane ziehen wir dann zurück.«