Mitten im Raum lag ein Haufen flacher Steine. Daneben entdeckte ich ein Schwert in einer Lederscheide.
Ich trat näher, um den Griff zu berühren. Es war ein sehr einfacher Griff, aus Holz. Ob das das Wahre Schwert war? Das stärkste Schwert weltweit?
Der Griff vibrierte leicht unter meinen Fingern. Als ob das Schwert es gar nicht erwarten konnte, die Scheide zu verlassen. Nur, wozu sollte ich es in dieser Situation brauchen? Um den Haufen Steine ordentlich aufzustapeln? Um das Schloss durchzuhauen und aus dem Labyrinth zu fliehen?
Ich musste lachen: Klar, das stellte meine erste Prüfung dar – auch wenn sie total lächerlich war! Wenn ich wirklich Angst gehabt hätte, nicht zurückzukommen, wäre ich schon vor langer Zeit abgehauen. Schon damals, im Turm der Freiflieger, als ich die Verborgene Tür geöffnet hatte.
Ich machte die Scheide an meinem Gürtel fest und lief den Gang hinunter. Da es nun weniger Fackeln gab, war es noch dunkler. Trotzdem konnte ich sehen, dass nirgendwo andere Gänge abzweigten.
Der Gang führte mich in ein Zimmer mit einer Glaswand. Dahinter lag, beleuchtet von einer Schreibtischlampe, mein Zimmer. Am Schreibtisch saß meine Mutter.
»Das ist eine Täuschung«, versicherte ich mir selbst. »Das ist die nächste Prüfung.«
Meine Mutter hörte mich nicht. Und sie sah mich auch nicht, denn die Glaswand war für sie eine ganz normale Wand mit Tapete. Sie weinte nicht und hatte ein ruhiges Gesicht. Sie hatte ein Fotoalbum durchgeblättert, das jetzt auf dem Tisch lag. Vermutlich hatte sie das Album schon x-mal angeguckt und saß nun da und wusste nicht, was sie sonst noch tun konnte…
Mit einem Mal verstand ich: Das, was mir das Labyrinth zeigte, stimmte. Meine Mutter saß tatsächlich so da. Oder hatte es zumindest getan, nachdem ich verschwunden war.
Ich bräuchte jetzt nur das Glas zerhauen – und könnte nach Hause zurückkehren.
»Warum erst jetzt?«, flüsterte ich wirr. »Warum hast du immer nur dann Augen für mich gehabt, wenn ich krank war, Mam? Und jetzt, wo ich weg bin…«
Meine Mutter saß bewegungslos da. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich bloß noch ein erstarrtes Bild oder ein Foto sah. Meine Mutter wäre nämlich längst aufgestanden und hätte eine Freundin angerufen oder etwas gekocht. Ihr Leben blieb nicht stehen, nur weil ich verschwunden war. Es ging auch ohne mich weiter.
Diesen Gedanken fand ich schrecklich. Er ließ meine Angst wachsen. Ich wollte schon nach dem Schwert greifen, die Glaswand zertrümmern, in mein Zimmer rennen, zu meiner Mutter…
Ich wollte kein Flügelträger mehr sein, sondern ein ganz normaler Junge, eben Danka aus der siebten Klasse. Das wiederum brachte mich zum Lachen. Und deshalb zog ich das Schwert nicht.
»Davor habe ich früher Angst gehabt«, flüsterte ich, während ich durch das Glas starrte. »Dass du mich nicht mehr lieb hast oder dass du stirbst. Aber jetzt weiß ich: Das Leben läuft anders. So oder so wäre ich erwachsen geworden, nur halt später. Ich muss mein eigenes Leben leben, das ist mir jetzt klar. Wahrscheinlich tauge ich als Kind nicht viel. Sonst wäre ich wohl nicht so schnell erwachsen geworden. Warte noch ein bisschen, Mam, dann komme ich bestimmt zurück.«
Das Glas trübte sich und vor mir erhob sich wieder eine harmlose Steinmauer. Außerdem erspähte ich nun einen schmalen, dunklen Gang, an dessen Ende ein schwaches Licht schimmerte. Ich machte einige Schritte hinein in die Finsternis.
Es war sehr still. Der Gang schien unendlich lang und stockdunkel. Ich hielt es nicht länger aus – und nahm das Schwert in seiner Scheide in beide Hände, um weiter in die Finsternis vorzudringen. Selbst durch die Lederscheide hindurch spürte ich, wie kalt die Klinge war.
»Das mit der Dunkelheit ist doch bescheuert«, behauptete ich laut. »Die ist gar nicht schrecklich. Und dass ich kein Kind mehr bin, ist auch nicht schrecklich. Dieses ganze Gequatsche ist doch Blödsinn!«
»Und was ist dann überhaupt noch von Bedeutung?«, erklang es vor mir. Wie angewurzelt blieb ich stehen.
»Papa?« Ich brachte das Wort kaum über die Lippen.
»Ja«, kam es aus der Dunkelheit zurück. »Wie bemerkenswert, dass du dich noch an mich erinnerst. Deine Mutter hast du ja schließlich auch, ohne mit der Wimper zu zucken, abgehakt.«
»Wenn einer sie aus seinem Leben gestrichen hat, dann ja wohl du«, flüsterte ich, während ich versuchte, wenigstens etwas zu erkennen.
»Ich habe mir nichts vorzuwerfen, Danka. Daran war unser Leben schuld. Das Leben von uns Erwachsenen. Aber das verstehst du noch nicht.«
»Du kannst gar nicht hier sein!«, rief ich und streckte die Hand aus. Meine Finger berührten etwas, das sich warm und weich anfühlte. Mein Vater mochte Anzüge aus dünner Wolle und trug nur diese Dinger. Trotzdem riss ich meine Hand zurück, als hätte ich eine Schlange angefasst.
»Und warum nicht? Man hat mich über alles informiert. Ich weiß genau, warum du hier bist. Du willst Krieg spielen, nicht wahr, Sohnemann?«
»Nein«, hauchte ich.
»Doch. Du bist schon immer so gewesen. Von klein auf hat es dir gefallen, alles kaputt zu machen und zu zerstören. Du bist von zu Hause weggelaufen… hast mich angelogen. Und ich konnte dich bestrafen, soviel ich wollte, bei dir hat nichts geholfen.«
Ich wich einen Schritt zurück.
»Willst du wissen, warum Mama und ich uns getrennt haben?«, fuhr mein Vater fort.
»Nein!«, brüllte ich. Aber das überhörte mein Vater.
»Deinetwegen, Danka. Deine Mutter weigerte sich, einen ordentlichen, intelligenten Menschen aus dir zu machen. Alles hat sie dir durchgehen lassen. Ein Weichei hat sie aus dir gemacht. Aber jetzt bekommt sie die Quittung dafür präsentiert.«
»Hau ab!«, schrie ich, während ich mich mit dem Rücken gegen die Wand presste. »Hau ab! Das ist gelogen!«
»Das ist die Wahrheit. Und dieser Gedanke ist dir selbst doch auch schon gekommen, nachdem ich euch verlassen habe. Und jetzt willst du mich zum zweiten Mal wegjagen.«
Ich brachte kein Wort heraus.
»Hörst du schlecht?«, fragte mein Vater mich in fast zärtlichem Ton. »Das macht nichts, so oder so steht uns ein langes Gespräch bevor. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, um aus dir einen anständigen Menschen zu machen. Ich werde es zumindest versuchen. Schließlich bist du mein Sohn. Da muss ich es einfach versuchen… Komm her!«
»Weißt du eigentlich, was ich in der Hand halte?«
»Ich ahne es, Danka. Aber du wirst mir nichts antun. Immerhin bin ich dein Vater.«
»Das bist du nicht! Du bist bloß das Mieseste, was ich von meinem Vater denke.«
»Was bildest du dir eigentlich ein, Sohnemann? Erinnerst du dich nicht mehr, was ich dir immer gesagt habe? Selbst der kleinste Fehltritt wird bestraft. Du hast schon zu viel angerichtet, und wenn ich dich jetzt nicht auf die richtige Bahn bringe…«
»Zeig dich, Papa!«, verlangte ich und merkte sofort, wie meine Angst verflog. Mein Vater schwieg. »Hast du etwa Angst, Papa?«, fragte ich. »Ja? Wovor denn? Vor dem Licht oder davor, dass ich dein Gesicht vergessen habe?«
»Übertreib es nicht!«, schrie es aus der Dunkelheit. Aber jetzt lag Angst in der Stimme.
»Weißt du noch, wie du mich bestraft hast, Papa? Das war immer abends, angeblich, damit ich nachts in Ruhe über alles nachdenken konnte. Oder lag es vielleicht doch eher daran, dass du dich in der Dunkelheit stärker gefühlt hast? Du sagst ja gar nichts, Papa?«
Inzwischen lief ich schon weiter durch den Gang. Das Licht lag in meinem Rücken. Ich hörte noch etwas über meine Mutter und darüber, dass ich an allem schuld sei, dass ich ein kleiner Fascho und Mörder sei, der so schnell wie möglich ein erwachsenes Arschloch werden wolle. Doch da hatte ich den Gang bereits hinter mir.
Jetzt befand ich mich in einem Raum, in dem es hell war und wo ein weiterer Korridor abging, diesmal ein breiter, der überhaupt nicht bedrohlich wirkte. Mit dem Rücken zu mir stand Len da und schaute in den Gang hinein. In seinen Händen hielt er das Wahre Schwert, das ebenfalls noch in der Scheide steckte. Ich schaute unwillkürlich auf meine eigenen Hände – in denen das gleiche Schwert lag.