»Bist du echt oder auch bloß eine Prüfung?«, fragte ich. Len wirbelte herum – und ich verlor halb den Verstand.
Len schien echt. Sein Blick war erschrocken, seine Haare zerzaust. Er sah mich genauso entgeistert an wie ich ihn.
»Bist du das… Danka?«, fragte Len schüchtern.
»Und bist du Len?«
Wir glotzten einander an, bis Len nach einer Weile unsicher lächelte. »Ich bin echt.«
»Wie bist du hierhergekommen?«, fragte ich misstrauisch.
»Von da. Logischerweise.« Len blickte an die Decke. »Wenn das Wahre Schwert gleichzeitig vielen Trägern dienen kann…« Er ließ den Satz unvollendet.
»Ach ja«, meinte ich, »daran hab ich gar nicht mehr gedacht.«
»Wovor hast du bisher Angst gehabt?«, wollte Len wissen.
»Vor Kleinkram. Und du?«
»Ich bin gerade erst hier gelandet. Und während ich noch darüber nachgedacht habe, wohin ich am besten gehen soll, bist du aufgetaucht.«
»Da hinten habe ich schon alles gecheckt«, sagte ich. »Das ist ein absolut simples Labyrinth, ohne jede Abzweigung. Versuchen wir mal diese Tür.«
»Okay.«
Als ich an Len vorbeimarschierte, berührte ich ihn – rein zufällig natürlich – an der Schulter. Offenbar war er tatsächlich echt. Wir liefen den Gang hinunter, ich voraus, Len hinter mir.
»Soll ich vielleicht vorgehen?«, fragte Len nach einer Weile leise. Der Gang wurde immer dunkler.
Sofort schrillten meine Alarmglocken. »Weshalb?«
»Na ja… womöglich traust du mir ja doch nicht… und glaubst, dass ich nicht echt bin…«
Bei dieser Erklärung brach ich in schallendes Gelächter aus. »Und du?«, fragte ich. »Glaubst du denn, dass ich Danka bin?«
»Ja«, beteuerte Len. »Warum sollte mir das Labyrinth eine solche Prüfung auferlegen? Schließlich habe ich keine Angst vor dir. Wir sind doch Freunde.«
»Siehst du, und ich hab keine Angst vor dir«, sagte ich.
Die Finsternis wurde jetzt total undurchdringlich, nirgends gab es noch einen Lichtschimmer. Selbst vor uns ließ sich kein Ausgang mehr erahnen.
Hatte ich wirklich keine Angst vor Len? In ihm lauerte doch die Finsternis, hatte der Kater gesagt. Und wenn er jetzt… Ich schüttelte den Kopf, um diese gemeine Angst zu vertreiben. Stattdessen versuchte ich, logisch zu denken. Wenn Len echt war – und das war er ganz offenbar –, brauchte ich keine Angst zu haben. Und falls er nicht echt war, wenn sich das Labyrinth tatsächlich diese fiese Prüfung für mich ausgedacht hatte… dann war mir immerhin schon nicht mehr so bange wie vorhin. Damit konnte das nicht meine Hauptangst sein. Mit der könnte ich also fertig werden.
»Danka!« Lens Hand legte sich mir auf die Schulter. »Lass mich vorangehen!«
Bei der Berührung war ich schreckhaft zusammengezuckt. Inzwischen kam mir sein Vorschlag durchaus entgegen. »Warum willst du denn unbedingt vorgehen?«, fragte ich trotzdem.
»Ich bin an die Dunkelheit gewöhnt«, meinte Len bloß und drückte sich an mir vorbei. Die nächste Minute sagten wir kein Wort, nur ab und an berührte ich Lens Schulter, um festzustellen, ob wir uns nicht etwa verloren hatten.
Plötzlich schrie Len los. Von vorn hörte ich Lärm. Ich stürmte vorwärts – und mein Kopf explodierte beinahe vor Schmerzen.
Das Erste, was ich spürte, als ich wieder zu mir kam, war der Griff meines Schwerts, der gegen meine Wange drückte. Ich lag auf dem Boden, das Wahre Schwert unter mir. In der Ferne verhallten Schritte und Stimmen, die mir vage bekannt vorkamen. Ich versuchte aufzustehen, rutschte aber auf dem Steinfußboden immer wieder aus.
Freiflieger.
Freiflieger, die nicht im Labyrinth sein konnten. Natürlich gab es sie nicht wirklich, sie entsprangen nur meiner Angst. Oder Lens Angst. Endlich schaffte ich es, hochzukommen. Mit angehaltenem Atem lauschte ich. Die Schritte wurden immer leiser, offenbar zogen sich die Freiflieger in den hinteren Teil des Labyrinths zurück. Natürlich konnte ich sie noch erwischen – und Len befreien.
Aber hier hinkte die Sache: Ich fürchtete mich nämlich nicht vor den Freifliegern. Und dass sie Len entführt haben könnten, jagte mir auch keinen Schrecken ein. Wenn Len echt war, musste er die Sache selbst erledigen.
»Tut mir leid«, sagte ich in die Dunkelheit hinein. »Jeder muss selbst gegen seine Angst kämpfen. Sorry.«
Ich lief den Gang weiter hinunter. Eine Minute, zwei, drei… Es war absolut still, und nur ein leichter Luftzug auf meinem Gesicht signalisierte mir, dass ich in ein weiteres Zimmer gelangte. In einen großen, stockdunklen Raum.
Komischerweise machte ich mir überhaupt keine Sorgen um Len.
»Ist hier jemand?«, schrie ich.
Stille. Rundum Stille und Dunkelheit.
»He!«, rief ich noch mal, aber schon leiser. Mir wurde mulmig zumute. Das Labyrinth war anscheinend nicht länger zum Scherzen aufgelegt. Jetzt machte es Ernst.
»Bringt nichts, wenn du hier herumschreist«, sagte jemand in der Dunkelheit. Die Stimme kam mir bekannt vor, auch wenn der Ton ungewohnt klang.
»Len?«, fragte ich. Das war seine Stimme – wenn auch im Ton eines…
»Ja, Len der Freiflieger. Ich bin gekommen, um aus dir einen von uns zu machen, Danka.«
»Das bist ja gar nicht du«, sagte ich erleichtert. »Die Freiflieger hätten dich in den paar Minuten nicht umwandeln können. Du bist nur eine von meinen Ängsten. Aber ich fürchte mich nicht sonderlich vor dir.«
Derjenige, der sich Len der Freiflieger nannte, lachte schallend los. »Warum auch, Danka? Dieses dumme Labyrinth meint doch tatsächlich, du würdest dich vor deinem Freund fürchten. Pah! Schließlich hast du ihn mit dem Wahren Blick geprüft und weißt, dass er dich nie verraten wird.«
»Eben«, sagte ich.
»Und was deine Eltern angeht… Um deine Mutter machst du dir schon seit Ewigkeiten keine Sorgen mehr und vor deinem Vater hast du längst keine Angst mehr. Du bist jetzt erwachsen.«
»Richtig«, sagte ich.
»Du hast nicht mal vor deinen Feinden Angst, stimmt’s? Du glaubst einfach nicht daran, dass du sterben könntest.«
»Stimmt, das glaube ich nicht«, flüsterte ich.
»Aber ich weiß, wovor du große Angst hast, Danka.« Die Stimme in der Dunkelheit widerte mich jetzt beinah an. »Eine ganz schön seltsame Angst, finde ich. Du hast Angst, dass dein Freund dich verrät. Dass mit ihm etwas Unheimliches passiert und er danach…«
»Halt den Mund!«, brüllte ich. »Klappe! Len würde mich nie verraten!«
»Im Leben vielleicht nicht. Aber hier, im Labyrinth des Schwerts, da hat er dich verraten. Du hast ihn allerdings auch nicht gerettet, insofern seid ihr quitt.«
»Aber das brauchte ich doch nicht, hier ist doch sowieso nichts echt!«
»Sicher, das glaubst du. Aber weißt du es auch? Du hast ihn verraten und jetzt musst du dafür bezahlen… Warum hast du nur solche Angst, dass dein Freund dich verrät, Danka?«
Ich schwieg.
»Ist dir das schon so oft passiert? Oder hast du selbst mal einen Freund verraten, Danka? Na?«
»Ich hatte noch nie einen Freund«, brachte ich gequält hervor. »Ich hatte noch nie einen richtigen Freund.«
»Wer hat das schon, Danka?«, höhnte Len der Freiflieger lachend. »Immerhin hast du die Wahrheit gesagt. Tapfer, tapfer!«
»Wenn es um die eigenen Ängste geht, muss man tapfer sein.«
»Gut gesprochen. Dann versuch’s mal.«
Ein Schwert klirrte und pfiff knapp an meinem Gesicht vorbei. Ich wich zurück, aber zu spät. Meine Wange wurde nass und Blut tropfte rhythmisch auf den Boden.
»Hätte ich besser gezielt«, erklang es aus der Dunkelheit, »wäre das dein Ende gewesen.«