»In deine?«
»Nein, ich glaube nicht…« Fragend sah ich Garet an.
»Das ist die Welt des Königreichs Tamal, Jungs«, sagte Reata an ihrer Stelle. »Eine sehr schöne Welt. Das stimmt doch, Mama, oder?«
»Ja«, antwortete Garet ihrer Tochter, bevor sie sich wieder an mich wandte. »Es wird dir hier gefallen, Danka.«
Ich stutzte. »Wollt ihr denn nicht zurück?«
»Nein«, sagte Garet. »Denn eure Welt hat uns nichts mehr zu bieten. Die Klugen verlassen sie als Erste, die Gierigen bleiben bis zum Schluss. Es war ein Vergnügen, mit den Freifliegern zu handeln… und auch mit euch, den Flügelträgern… aber alles hat einmal ein Ende.«
»Warum das?«
So, wie Garet den Kopf schüttelte, schien die Frage sie zu erstaunen. »Du solltest das doch eigentlich wissen, Junge mit dem Wahren Blick, der du aufseiten des Lichts stehst. Wir, die Händler, ahnen es, wenn ein Wechsel bevorsteht.« Sie setzte ein überhebliches Lächeln auf. »Die Frauen der Händler verlassen die Welt der Flügelträger. Die Männer spüren zwar auch, dass sie bald gehen müssen, trauen ihren Gefühlen jedoch nicht. Sie wollen den Rahm selbst dann noch abschöpfen, wenn dieser längst nicht mehr existiert.«
Ich nickte, als wüsste ich, wovon sie sprach. Dann blickte ich zu Len hinüber. Der reckte den Kopf und glotzte die am Horizont stehende Sonne an.
»Du Idiot!«, schrie ich und drückte Len meine Hand vor die Augen.
Len rührte sich nicht mal. »Selbst durch die Hand hindurch leuchtet es«, schwärmte er begeistert. »Ist das die Sonne, Danka?«
»Ja, du Blödmann! Aber du versaust dir die Augen!«
»Wie das?« Len versuchte, sich aus meiner Umklammerung zu befreien.
»Man darf die Sonne nicht so lange anstarren«, belehrte ich ihn. »Merk dir das! Man darf nicht in die Sonne blicken!«
»Wirklich nicht?«, fragte Len misstrauisch.
Ich nahm meine Hand von seinen Augen. »Was siehst du jetzt?«, wollte ich wissen.
»Bunte Kreise…«
»Schließ die Augen und setz dich hin«, forderte ich ihn auf. Daraufhin wandte ich mich an den Kater, der in der Luft schwebte und – genau wie gerade eben Len – unverwandt in die Sonne starrte. »Sind seine Augen jetzt verdorben?«
»Nein«, beruhigte mich der Kater. »Das geht gleich vorbei.«
Ich sah wieder zu Len hin, der nun auf Deck saß und gehorsam die Augen zusammenkniff. Erst jetzt, hier im Sonnenlicht, erfasste ich, wie bleich er wirklich war.
Seine Haut schimmerte so weiß, dass sie beinah blau wirkte. Seine Haare waren absolut hellbraun, wie ausgeblichen – von der Finsternis. Der schwarze Stoff der Flügel unterstrich seine Blässe noch zusätzlich. Eine echte Horrorgestalt…
Ich hockte mich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Was machen deine Augen?«, fragte ich.
»Schon besser. Jetzt ist alles dunkel«, sagte Len, der nach wie vor die Augen zusammenkniff.
»Du kannst die Augen jetzt wieder öffnen.«
Len sah mich an und lächelte. »Wird es bei uns genauso werden, Danka?«
»Klar«, versprach ich mit fester Stimme. »Noch besser sogar. Ihr werdet Sonnenauf- und -Untergänge haben, Wolken, durch die weiches Licht fällt, und Nächte, in denen Sterne leuchten.«
Len nickte, schnell und gehorsam, fast als hinge davon ab, ob meine Worte auch Wirklichkeit wurden.
»Wollt ihr baden, Jungs?«, rief Garet. Ich drehte mich um – und hätte beinahe auch die Augen zusammengekniffen: Garet zog sich aus. Oben war sie schon nackt, jetzt zog sie gerade den Reißverschluss ihrer Jeans auf. Reata stand bereits splitternackt da. Völlig gelassen lehnte sie an der Reling der Jacht und schämte sich nicht im Geringsten vor Len und mir.
Ob die Flügelträger vielleicht gar nichts dabei fanden? Doch als ich zu Len hinüberschaute, der knallrot geworden war, wusste ich: Oh nein, sie fanden etwas dabei. Aber möglicherweise hatten die Händler andere Sitten…
Ob ich genauso rot war wie Len?
Garet zog sich in aller Ruhe weiter aus, lugte zu uns herüber und grinste wissend, ohne jede Verlegenheit.
Jetzt aber Schluss! Hatte ich denn noch nie eine nackte Frau gesehen? Okay, im richtigen Leben natürlich nicht, aber auf Fotos in Zeitschriften oder spät abends im Fernsehen mehr als genug.
»Kommst du mit ins Wasser, Len?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht schwimmen«, meinte er mit einer Stimme, die ich kaum wiedererkannte.
»Na, ich spring jetzt rein«, erwiderte ich, wobei mir auffiel, dass auch meine Stimme fremd und anders klang.
Egal.
Als ich den Flügeloverall auszog, wurde mir klar: Hätte ich noch eine Sekunde länger gewartet, hätte ich das Schwimmen vergessen können und genauso dumm dagestanden wie Len. Zum Glück schauten weder Garet noch ihre Tochter in meine Richtung. Als ich endlich aus dem engen Overall raus war, sprang Reata gerade kopfüber ins Wasser. Nach etwa fünf Metern kam sie wieder zum Vorschein und schwamm von der Jacht weg. Prompt fühlte ich mich nicht mehr ganz so verlegen. Fast schon trotzig zog ich die Unterhose runter. Ich trat an den Rand und sprang ebenfalls ins Wasser.
Das Wasser war warm und ließ sich überhaupt nicht mit der Chlorbrühe aus dem Schwimmbad vergleichen, an die ich gewöhnt war. Außerdem war es sehr salzig und trug mich fast von selbst. Als ich den Kopf hob, sah ich Garet über mir an Deck.
Letztendlich hatte ich doch noch keine nackten Frauen gesehen. Fotos sind einfach was anderes. Mit einem Mal spürte ich, wie… also, es war mir jedenfalls ganz recht, dass ich schon im Wasser war.
Die Frau des Händlers war noch ziemlich jung. Vielleicht dreißig oder etwas älter, das kann ich nicht so genau sagen, denn von diesen Dingen verstehe ich nicht viel. Sie war schlank wie ein Mädchen, was vermutlich daran lag, dass Garet ständig zu Fuß unterwegs war.
»Ist das Wasser warm, Danka?«, fragte Garet sanft und mit seltsamer Stimme.
Ich brachte nur ein Nicken zustande. Ich versuchte, woanders hinzuschauen, schaffte es aber nicht. Denn ich wollte ihre Brüste anschauen und ihre Beine und das schmale Dreieck aus rotblonden Haaren. Nie hätte ich gedacht, dass die Haare an dieser Stelle die gleiche Farbe haben wie am Kopf. Auf den Fotos, die ich bisher gesehen hatte, waren sie immer dunkel.
Garet setzte sich an den Schiffsrand und glitt ins Wasser. Ich fuchtelte mit den Armen und schwamm zur Seite. Garet tauchte unter und schoss dann wieder aus dem Wasser. »Ich tunke dich schon nicht, Danka«, meinte sie lachend. »Du brauchst also nicht die Flucht zu ergreifen.«
»Das habe ich auch nicht vor«, behauptete ich heiser. Seit Garet ins Wasser gekommen war, fühlte ich mich schon ein bisschen sicherer. Allerdings hatte ich auch den Eindruck, man hätte mich angeschmiert.
»Komm doch ins Wasser, Len!«, rief ich noch einmal. Aber Len antwortete nicht.
»Dein Freund ist noch zu klein«, erklärte Garet sanft. »Er schämt sich. Abgesehen davon ist er eben bloß ein Mensch.«
Ich wollte mich schon darüber aufregen, dass Garet Len als klein bezeichnete – aber ihr letzter Satz brachte mich völlig aus dem Konzept.
»Und was sind wir, bitte schön?«, frage ich schnippisch.
»Wir? Wir sind diejenigen, die neben den Göttern stehen. Wir dienen den Kräften. Du dem Licht, ich der Dämmerung. Aber keine Sorge, das Licht und die Dämmerung sind einander nicht feindlich gesinnt.«
»Aber Len dient auch dem Licht!«, widersprach ich.
»Nein, Danka. Len dient nur dir. Wenn du die Seite wechseln würdest, würde er dir folgen.«
»Blödsinn!«, flüsterte ich, denn ich hatte Angst, Len könnte uns hören. »Wir sind Freunde!«
»Du bist zu stark, um sein Freund zu sein«, sagte Garet mit fester Stimme. »Entweder muss dich mal jemand zurechtstutzen… oder Len muss stärker werden und über sich hinauswachsen. Dann könnt ihr Freunde werden. Das weißt du genau, Danka.«