»Kommt zum Platz!«, forderte Len den Junior auf. Wahrscheinlich kannten sich die beiden. »Jetzt gleich.«
»Denn dort…«, meinte der Kater zufrieden, der über dem Kopfsteinpflaster schwebte, etwa in Höhe meiner Taille, »… bekommt ihr etwas geboten!«
Der Gedanke an dieses Spektakel begeisterte mich nicht gerade, trotzdem sagte ich nichts dagegen.
Als wir zwanzig Minuten später den Platz erreichten, auf dem ich damals geblendet worden war, hatte sich bereits eine gewaltige Menge versammelt. Offenbar hatten die Flügelträger, denen wir begegnet waren, die Neuigkeit von der bevorstehenden Sensation sofort in Umlauf gebracht.
2. Das Gleichgewicht
Shoky kam als einer der Letzten zum Platz gerannt. Schweigend hatte ich die ganze Zeit über auf ihn gewartet. Erst jetzt, da die Spannung der Menge ihren Höhepunkt erreicht hatte, ergriff ich das Wort: »Ich bin gekommen, um euch das Licht zu bringen.«
Meiner Meinung nach klang das ziemlich toll. Die Flügelträger schwiegen jedoch, nur die Erwachsenen, die in einer eigenen Gruppe zusammenstanden, murmelten etwas. Ich holte tief Luft. »Ich bin aus einer anderen Welt«, fuhr ich fort. »Dort scheint die Sonne. Dort gibt es keine Freiflieger. Ich bin gekommen, um euch zu helfen…«
Schweigen. Allerdings drängelte sich Shoky jetzt nach vorn und durchbohrte mich mit Blicken.
Am liebsten wäre ich abgehauen, doch nun gab es kein Zurück mehr. Ich sah zum Kater hinüber, der in meiner Nähe schwebte. »Das ist ein Sonnenkater«, stellte ich ihn vor. »Er ist mein Freund. Er ist aus Licht gemacht und soll euch helfen. Ihr habt mich geblendet, aber das Licht hat mir ein neues Sehvermögen gegeben. Ich nehme euch das nicht übel. Ich bin gekommen, um euch zu helfen.«
»Wobei willst du uns helfen, Danka?« Endlich durchbrach Shoky das Schweigen. Seine Stimme klang weder erstaunt noch verzweifelt, sondern einfach bloß traurig.
»Dabei, das Licht zurückzubekommen!«
Shoky zuckte mit den Schultern. Er sah die anderen Flügelträger an. »Wie hast du denn vor, uns das Licht zurückzugeben, Danka?«, fragte er laut. »Unsere Sonne ist gestorben. Aber wir haben es überlebt. Wie willst du uns das Licht zurückgeben?«
Wenn ich das nur wüsste…
»Wir müssen die Freiflieger vernichten«, erklärte ich und versuchte, möglichst sicher zu klingen. »Alles kann ich euch nicht sagen, aber das müssen wir als Erstes tun. Wenn alle Flügelträger aus allen Städten…«
»Weißt du, was das Schwarze Feuer ist, Danka?«
Ich fasste unwillkürlich nach Lens Hand. Wie sollte ich das nicht wissen…
»Ja, Shoky…«, sagte ich.
»Wir haben ein Gleichgewicht hergestellt, Danka. Wir greifen ihre Türme nicht an… zumindest nicht so, wie du es vorschlägst, also alle zusammen und mit ganzer Kraft. Dafür stecken die Freiflieger unsere Städte nicht in Brand. Das ist unser Gleichgewicht, Danka. Wenn wir tun, was du vorschlägst, werden unsere Städte wie Zunder brennen. Zusammen mit all denjenigen, die nicht kämpfen, den Kindern, Frauen und Erwachsenen.«
»Aber dafür…«
»Was dafür? Was könnte das sein, wofür wir unsere Verwandten abfackeln lassen?«
Hilflos sah ich zum Kater hinüber. Er fing meinen Blick auf – und plötzlich fiel mir sein Rat wieder ein. Daran klammerte ich mich jetzt.
»Eure Städte werden so oder so brennen, Shoky!«, sagte ich. »Wir sind in einem Turm der Freiflieger gewesen und haben sie belauscht. Sie wollen die Flügelträger überfallen. Sie wollen eure Städte niederbrennen!«
Jetzt schwieg die Menge um uns herum nicht mehr. Aufgebracht riefen alle durcheinander. Der Lärm tat mir sogar in den Ohren weh. Doch als Shoky den Arm hob, verstummten nach und nach alle wieder.
»Das ist eine Provokation«, urteilte er mit fester Stimme.
Sein Ton trieb mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Ich hätte nicht gewusst, was ich darauf sagen sollte, doch an meiner Stelle ergriff nun der Kater das Wort. »Ich bin auch bei diesem Turm gewesen! Und ich spreche im Namen des Lichts!«
Shoky, der schon etwas vorbringen wollte, schwieg dann doch.
»Glaubt jemand von euch etwa, das Licht könnte lügen?«
Stille. Aber der Kater erwartete eine Antwort.
»Nein, das Licht lügt nicht«, stieß Shoky widerwillig hervor.
»Richtig!«, sagte der Kater. »Und deshalb hört mich an: Ich bin in diesem Turm der Freiflieger gewesen und habe ihre Gespräche gehört. In ein paar Tagen werden eure Städte im Schwarzen Feuer lodern. Eure einzige Chance besteht darin, als Erste anzugreifen.«
Der Kater sprach so überzeugend, dass ich unwillkürlich dachte: Wann und wo hat er das denn gehört? Schließlich hatten die Freiflieger doch gar nicht die Absicht, anzugreifen…
»Das ist eine Provokation«, wiederholte Shoky. »Eine Provokation der Freiflieger. Sie wollen uns Angst einjagen. Mir ist klar, dass du nicht lügst, aber auch das Licht kann sich irren.«
Wieso lief bloß alles so schief? Die Flügelträger wunderten sich überhaupt nicht über unsere Rückkehr, meine geheilten Augen oder den Sonnenkater…
»Wieso glaubt ihr uns nicht?«, schrie ich. »Wir sind aus einer anderen Welt! Uns hat das Licht geschickt!«
Als ich den Blick des Katers auffing, las ich Missbilligung darin. Shoky ließ sich nicht mal zu einer Antwort herab. An seiner Stelle antwortete ein Erwachsener, ein älterer Mann von etwa vierzig Jahren, der sich durch die Menge gequetscht hatte.
»Bildest du dir eigentlich ein, du wärst der Erste, der zu uns gekommen ist, um uns zu helfen, mein Junge?«
Es hatte keinen Sinn, darauf zu antworten.
»Ich bin in deinem Alter gewesen, als ein Krieger aus dem Königreich Tamal in unsere Stadt kam. Auch er hat behauptet, das Licht habe ihn geschickt. Er hat uns aufgefordert, in den Kampf zu ziehen, und geschworen, er würde ganz allein den Turm des Herrn der Finsternis zerstören. Er wurde nie wieder gesehen.«
»Wenn ihr ihm geholfen hättet…«, setzte ich an.
»Wir haben ihm geholfen. Mit ihm ist die Hälfte der Flügelträger unserer Stadt losgezogen. Keiner von ihnen ist je zurückgekehrt.«
Der Mann trat an mich heran, legte mir die Hand auf die Schulter und meinte fast zärtlich: »Du willst uns helfen und dafür danke ich dir. Du hast uns am Anfang getäuscht, aber du hast bewiesen, dass du deine Flügel zu Recht trägst. Ich freue mich, dass du wieder sehen kannst… noch dazu besser als vorher, denn schließlich stehst du hier ohne Brille. Ich spreche jetzt im Namen der erwachsenen Männer, aber ich glaube, die Flügelträger und die Frauen der Stadt stimmen mir zu. Bleibt in der Stadt, wir freuen uns, euch bei uns zu haben, oder geht euren Weg – auf dem euch Glück beschieden sein möge. Aber einen Krieg werden wir nicht anfangen.«
»Vielen Dank, Senior meines Seniors«, erklärte Shoky in feierlichem Ton. Daraufhin strömten die Erwachsenen wie auf einen geheimen Befehl hin auseinander. Nach ihnen verließen auch die Mädchen den Platz. Nur die Flügelträger blieben noch übrig.
»Shoky…« Mir entging der jämmerliche und bittende Unterton in meiner Stimme nicht. Aber Shoky ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Wir brauchen darüber nicht weiter zu diskutieren, Danka. Unsere Entscheidung steht fest. Euer Haus ist in Ordnung, ihr könnt wieder dort wohnen. Essen wird euch gebracht, das ordne ich an. Ruht euch jetzt aus.«
Kurz darauf standen wir allein auf dem Platz.
Ein leichter, aber kalter Wind wehte, hoch oben zogen sich die Wolken zusammen. Kein einziges Licht war in den verhangenen Fenstern zu sehen, kein einziges Geräusch in den Straßen, die vom Platz wegführten, zu hören.