Finsternis und Freudlosigkeit. Schwärze und Stille. Nacht und Nichts.
Nur die Säule in der Mitte des Platzes. Erst jetzt ging mir auf, dass es sich um einen Galgen handelte, dessen Strick allerdings bis zum nächsten Gebrauch abgenommen worden war.
Ich wechselte vom Wahren Blick zum normalen über. Daraufhin zog sich die Welt zusammen, verwandelte sich in einen winzigen Käfig, den der Sonnenkater beleuchtete. Wie schwach er nur noch schimmerte…
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Dass wir nicht die Ersten sind?« Der Kater schaute nicht mal zu mir herüber.
»Ja!«
»Weil ich das nicht wusste.«
»Du lügst!«
»Gibt es in deiner Welt vielleicht ein Königreich Tamal, Danka? Das waren Gesandte des Lichts, die aus einer anderen Welt stammten. Für die bin ich doch nicht verantwortlich!«
»Das heißt, auch wir können verlieren?«
»Ohne Weiteres!« Der Kater setzte sanft auf dem Kopfsteinpflaster auf, landete dabei jedoch mit einer Pfote in einer Pfütze und verzog angewidert das Gesicht. »Gehen wir nach Hause, Kinder. Was wir zu besprechen haben, ist nicht für die Straße bestimmt – selbst wenn diese verlassen zu sein scheint.«
Shoky hatte nicht gelogen, man hatte uns wirklich etwas zu essen gebracht. Sogar an Sahne für den Kater hatten sie gedacht. Schweigend aßen wir, fast, als hätten wir uns gestritten.
»Warum macht ihr so trübsinnige Gesichter?«, fragte der Kater, nachdem er seine Sahne aufgeschleckt hatte.
Len bearbeitete seine Bulette wortlos mit der Gabel, als wollte er wieder Hackfleisch aus ihr machen.
»Haben wir deiner Ansicht nach etwa Grund zur Freude?«, entgegnete ich. »Schließlich ist niemand auf unserer Seite!«
»Das wird sich schon noch ändern.« Der Kater schien regelrecht auf diese Worte gewartet zu haben. »Wenn erst mal das Schwarze Feuer in der Stadt wütet, werden sich die Flügelträger eines Besseren besinnen.«
»Welches Schwarze Feuer?«, fragte ich begriffsstutzig. »Die Freiflieger haben doch gar nicht die Absicht, anzugreifen!«
Sie schwiegen alle beide, Len und der Kater. Und zwar so einvernehmlich, als wüssten sie etwas, das ich noch nicht mal ahnte.
»Len…« Ich sah meinen Junior an.
Er blickte mir in die Augen. »Danka, ich glaube, der Kater möchte, dass wir die Stadt anzünden. Bist du damit einverstanden?«
Wen beleidigte Len mit dieser Frage eigentlich mehr – den Kater oder mich?
Ich sprang auf und scheuerte Len eine. Mein Junior kippte samt Stuhl nach hinten, blieb kurz liegen, hockte sich dann hin und presste die Hände vors Gesicht. Seine Nase blutete.
»Du tickst ja nicht mehr richtig!«, brüllte ich. Und ohne zu wissen, was ich da eigentlich sagte, fügte ich hinzu: »Du bist zur Finsternis übergewechselt! Aus dir spricht die Finsternis!«
Len schniefte, machte jedoch keinen Versuch, aufzustehen. »Stimmt, die Finsternis hat mich schon fast zu sich gezogen…«, flüsterte er. »Deshalb erkenne ich sie auch besser als du.«
Meine ganze Wut verwandelte sich daraufhin in Scham und Mitleid. Ich setzte mich neben Len auf den Boden und bog seinen Kopf nach hinten. »Halt den Kopf im Nacken, damit es schnell aufhört zu bluten.«
Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht? Len war einen halben Kopf kleiner und rund zehn Kilo leichter als ich. Ein echt fairer Kampf! Der Turm der Freiflieger fiel mir ein und Lens Schrei, kurz bevor sie ihm das Schwarze Feuer eingeflößt hatten. Ein Kloß schnürte mir die Kehle zu.
»Tut mir leid, Len… Und du, Kater, nimm es Len auch nicht übel!«
»Was denn?«
Selbst wenn du etwas um keinen Preis glauben willst – irgendwann ist es albern, der Wahrheit nicht ins Auge zu sehen.
»Hat Len etwa recht?«
»Aber sicher. Ihr müsst die Stadt anzünden.«
Alles, was sich in den letzten Tagen in mir angestaut hatte, die ganze Wut, der Kummer und die Bosheit, all das brach sich jetzt Bahn.
Ich erinnere mich nicht mal mehr an jedes Wort, das ich dem Kater an den Kopf geknallt habe. Auf alle Fälle habe ich ihn beschuldigt, mich in diese Welt geschleift und mich allein in dem Tal sitzen gelassen zu haben, darüber hinaus habe ich ihm angekreidet, dass man mich blind gemacht hat, und auch das, was mit Len passiert ist, dann noch meine Erlebnisse im Labyrinth des Schwerts und mit den Händlern und…
Irgendwann verstummte ich, denn mir fiel nichts mehr ein, was ich ihm noch krummnahm.
Der Sonnenkater hatte schweigend zugehört. Nur einmal putzte er sich mit der Pfote das Gesicht, nämlich als ich ihn an das Labyrinth erinnerte.
»Bist du jetzt fertig, Danka?«, fragte er schließlich kaum hörbar.
»Ja!«, knurrte ich, während ich mit einer Hand Lens Kopf erneut zurückbog und ihn mit der anderen umarmte. »Du bist gar nicht auf der Seite des Guten, Kater! Dein Licht ist keinen Deut besser als die Finsternis!«
»Meinst du etwa, mir gefällt das, Danka?«, fragte der Kater seufzend. »Aber nur im Märchen vollbringt ein guter Mensch wirklich nichts Schlechtes. Im Leben verhält es sich anders. Wenn das Licht hier gegen die Finsternis kämpft, muss es rücksichtslos sein. Einen anderen Weg gibt es nicht, siehst du das denn nicht ein?«
»Das soll eine Lösung sein?! Eine Stadt anzünden? Und die Menschen, die dort wohnen?«
»Natürlich nicht die ganze Stadt… Obendrein käme vermutlich niemand zu Schaden… Es dürfte genügen, ein paar Flaschen mit Schwarzem Feuer überm Stadtzentrum abzuwerfen, wo ja kaum jemand wohnt. Dann brennen die Clubs, die Werkstätten und Lager… Und selbst wenn ein paar Wohnhäuser in Flammen aufgehen sollten – das ist doch schließlich keine Atombombe! Allen wird genug Zeit zur Flucht bleiben! Danach greifen die Flügelträger die Freiflieger garantiert an!«
»Und dann schlachten sich alle gegenseitig ab! Schließlich verstehen die Freiflieger etwas vom Kampf!«
»Nein, Danka. Es geht nur darum, die Freiflieger abzulenken, damit sie alle Kräfte auf einen Schauplatz konzentrieren. In der Zwischenzeit werden wir ihren Hauptturm angreifen.«
Sobald der Kater mir den Plan mit seinen eigenen Worten schilderte, hörte er sich komischerweise gar nicht mehr gemein und grausam an. Mehr wie eine Kriegslist. Okay, in der Stadt würden ein paar Häuser abbrennen – aber dafür würden wir die Freiflieger besiegen.
Mannomann, wie hatte ich bloß so auf der Leitung stehen können?
»Aber was können wir im Hauptturm ausrichten? Müssen wir etwa bloß diesen Herrn der Finsternis umbringen – und schon hauen alle ab und die Sonne kommt zurück?«
»Ich weiß es nicht, Danka«, erklärte der Kater müde. »Wie ich schon gesagt habe, ist mir selbst nicht alles klar. Aber ich spüre, dass wir den Hauptturm angreifen müssen.«
»Und wo nehmen wir das Schwarze Feuer her?«
»Gibt es etwa nicht genügend Türme in der Umgebung? Ihr beide, Len und du, werdet doch wohl mit ein oder zwei Freifliegern fertig werden! Wir zerstören einfach einen Turm und holen uns das Schwarze Feuer. Da schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe…«
»Aber die Freiflieger im Turm müssen wir doch töten!«
»Ja und?«
Das war’s. Das war mein letzter Einwand gewesen, mehr konnte ich nicht vorbringen. Weitere Argumente fielen mir nicht ein. Nun bohrte sich ein dumpfer, düsterer Schmerz in mein Herz.
»Junior…« Hilflos sah ich zu Len rüber. »Das ist deine Stadt… Entscheide du.«
Len betastete seine Nase. Da sie nicht mehr blutete, holte er ein Taschentuch heraus und putzte sie sich vorsichtig.
»Mir ist von Anfang an klar gewesen, dass wir keine andere Möglichkeit haben«, meinte er.
Und noch einmaclass="underline" Das war’s. Wenn sogar Len mit dem Plan einverstanden war…
»Wir könnten das Schwarze Feuer doch auch über eine andere Stadt gießen, oder?«, schlug ich vor. »Hier leben deine Freunde…« Beinahe hätte ich noch hinzugefügt: und deine Mutter, aber zum Glück stoppte ich mich noch rechtzeitig.