»Was für Schmutzfinken!«, zischte der Kater verächtlich, während er aus meinem Ausschnitt kletterte und mit einem Satz auf dem Boden landete. »Schämen sollten sie sich! Wartet hier, Jungs, ich gehe vor.«
»Warum das?«, wollte ich wissen, hauptsächlich um nicht als feige dazustehen – denn eigentlich war mir angst und bange.
»Ich gebe kein so gutes Ziel ab«, erklärte der Kater. »Wartet hier!«
Er sprang durch die Luke, glitt nicht nach unten, sondern sprang tatsächlich. Sein Fell leuchtete grell, doch wie hätte er es hier verstecken sollen? Immerhin konnte er den Freifliegern mit dem Licht Angst einjagen.
Ohne mich mit Len abzusprechen, zogen wir beide unser Schwert. Die Scheide des Wahren Schwerts war noch immer leer, was mich ein wenig beruhigte.
»Kommt runter«, fiepte der Kater von unten.
Der Raum, in den wir gelangten, war ebenfalls leer und zugemüllt, Umrisse ausgetrockneter Pfützen zeichneten sich ab, überall lag was rum, Anziehsachen, aber auch Schwerter ohne Scheiden. Lens Gesicht verkrampfte sich plötzlich. »Das ist Kurts Schwert…«, stotterte er und zeigte mit der Hand auf eine Klinge.
Ein Schwert wie jedes andere auch, länger als meins und mit einem blutroten Stein am Griff. Als ich es vorsichtig mit dem Fuß anhob, klirrte der Stahl.
»Pst!«, zischte der Kater, der die dunkle Wendeltreppe hinunterspähte.
Wir erstarrten, doch offenbar wollte der Kater nur in die Dunkelheit hineinlauschen.
»Das ist ein gutes Schwert«, flüsterte Len mir ins Ohr. »Besser als deins. Willst du es nehmen?«
»Mein Schwert ist auch gut«, erwiderte ich genauso leise. »Das dort ist mir zu schwer.«
»Gehen wir!« Der Kater rannte die Stufen hinunter. Wir folgten ihm, indem wir uns an dem Licht orientierten, das er ausstrahlte. Im Turm half uns die Brille kaum und den Wahren Blick wollte ich nicht benutzen.
»Komisch… Warum brennen hier denn keine Fackeln?«, hauchte Len.
»Vielleicht ist der Turm ja verlassen?«
»Die haben doch nie genug Türme«, wandte Len ein. »Die leben nämlich nicht gern beengt…«
Die Treppe führte uns in ein rundes Zimmer irgendwo in der Mitte des Turms. Der Kater sprang die letzte Stufe hinunter – und blieb wie angewurzelt stehen. Da ich ahnte, dass etwas nicht stimmte, stürzte ich zu ihm.
An der Wand stand ein Bett, ein ganz normales Bett mit einem weißen Laken. Auf ihm lag ein Freiflieger und starrte an die Decke. Ein Arm baumelte herab, die Membran der Flügel zitterte im schwachen Luftzug.
Der ist tot, dachte ich ganz ruhig. Aber Len, der sein Schwert mit beiden Händen gepackt hielt, schlich sich vorsichtig ans Bett. Ich rief mir in Erinnerung, dass tote Freiflieger versteinern.
Mit einem knirschenden Geräusch drehte der Freiflieger langsam den Kopf. Len hielt mitten in der Bewegung inne. Ein kalter, gläserner Blick tastete uns ab.
»Gebt mir Wasser«, verlangte der Freiflieger mit heiserer, aber überraschend voller Stimme.
Meine Benommenheit verflog. Ich näherte mich dem Bett, wobei ich die Hand am Schwert behielt. Der Kater folgte mir, leise fauchend.
»Keine Bewegung!«, warnte ich den Freiflieger.
Der setzte bloß ein starres Lächeln auf. »Das geht sowieso nicht. Ich bin krank. Ich sterbe. Gebt mir Wasser.«
»Warum sollten wir?«, meinte Len giftig.
Ich knüpfte schweigend meine Flasche vom Gürtel und hielt sie dem Freiflieger an die Lippen. Er nahm ein paar gierige Schlucke, bevor er das Gesicht wieder abwandte.
»Das reicht. Es gibt nicht mehr viel in mir, das Wasser bräuchte. Aber ich hatte solchen Durst.«
»Trotzdem stirbst du gleich«, sagte Len.
»Ja«, meinte der Freiflieger. »In fünf Minuten… höchstens.«
»Mir war nicht klar, dass ihr auch krank werdet«, sagte ich.
»Wir leiden am Alter. Später als ihr… aber trotzdem.« Der Freiflieger sah mich lange an. »Verstehe«, bemerkte er schließlich. »Du bist nicht von hier. Du bist gekommen, um uns zu besiegen…«
»Ja! Und er wird auch siegen!«, mischte sich der Kater ein. Er war total angespannt, machte einen Buckel und sah den sterbenden Freiflieger mit einem Trotz an, den ich nie für möglich gehalten hätte. Wie in Zeitlupe drehte dieser den Kopf. Ich meinte, ein seltsames Knirschen zu hören. Eine Staubwolke setzte sich auf dem Laken ab, an der Stelle, wo der Kopf des Freifliegers gelegen hatte.
»Oh… ein Abgesandter des Lichts… und was für ein komischer…«
Er streckte die Hand nach dem Kater aus und das Knirschen wurde lauter. Sandkörner rieselten zu Boden.
Der Kater brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. »Was soll das?«, fragte er erstaunt. »Fürchtest du dich denn nicht vor mir?«
»Nicht mehr… spielt jetzt keine Rolle mehr. Kater… ich hatte auch mal… einen guten… Das ist… recht lange her… Woher kommst du, Junge?«
Das Gesicht des Freifliegers nahm eine erdige, graue Farbe an, bei jedem Wort stieg aus seinem Mund eine Staubwolke auf. Als ich antworten wollte, brachte ich keinen Ton heraus. Die Angst verstopfte mir die Kehle.
Der Freiflieger brabbelte mittlerweile nur noch unzusammenhängendes Zeug daher. Irgendwann schlug seine Hand auf dem Boden auf und ein Finger brach ab. An der steinernen Hand glänzte die Bruchstelle feucht wie Lehm.
»Weshalb seid ihr hergekommen? Der arme Turm… Wir Freiflieger sterben selten an Altersschwäche. Ihr versteht was vom Töten… Weshalb seid ihr gekommen?«
»Wir brauchen das Schwarze Feuer.« Endlich brachte ich ein Wort heraus.
»Ah…« Wie grauer Putz blätterte die Haut des Freifliegers in seinem Gesicht ab. »Ja, versuch du es… ich konnte es nicht…«
»Bring ihn um, Danka!«, schrie der Kater.
»Halt den Mund, du Biest!«, fuhr ich ihn an. »Was meinst du damit, Freiflieger?«
Aber er war schon bei einem anderen Thema. »Das Schwarze Feuer… unterm Schrank… unten… die Luke. Dort gibt es noch einen Vorrat… Nimm…«
Jetzt bewegten sich nur noch seine Lippen. Alles andere war bereits versteinert, das Gesicht und die Hände, sogar über den Augen lag ein trüber, grauer Schleier. Trotzdem flüsterte er noch weiter: »Du komischer Kater… ich wollte es auch… aber ich konnte es nicht… was spielt das noch für eine Rolle, wofür wir kämpfen… ich wollte…«
Dann verstummte er.
Wenn der Freiflieger uns nichts von dem Geheimfach erzählt hätte, hätten wir es nie entdeckt. In ihm befanden sich vier Flaschen mit Schwarzem Feuer, außerdem noch eine andere verdächtig aussehende Flüssigkeit, ebenfalls in Flaschen, die wir jedoch nicht anrührten, sowie ein merkwürdiger feiner Degen, den ich herausnahm und auf den versteinerten Freiflieger legte. Ein Lederbeutel in der Ecke des Verstecks enthielt allerlei Krimskrams: eine unbekannte Münze, einen Kerzenstummel, ein durchsichtiges Kristall, einen roten Gummiball, einen großen Schlüssel aus Bronze, ein Taschenmesser, einen Bleistift… Diese Sachen hatten dem Freiflieger wahrscheinlich etwas bedeutet, als er noch ein Mensch gewesen war. Ich legte sie ebenfalls neben ihn hin.
In einem der leeren Zimmer fand ich auf dem Tisch eine Bleistiftzeichnung, mit schnellen Strichen hingeworfen, aber gut gelungen. Len erzählte ich nichts davon. Die musste Kurt gezeichnet haben, nachdem er zum Freiflieger geworden war, daran bestand für mich kein Zweifel. Auf der Rückseite stand der Titeclass="underline" Meine Stadt. Eine Stadt war jedoch gar nicht zu sehen, sondern nur Gesichter. Ich erkannte Shoky, der ein sehr ernstes Gesicht hatte, auf dem sich aber ein Lächeln andeutete, Iwon, der jetzt ein aufgeschwemmter, fetter Kerl war und die Arme vor der Brust wie zum Gebet verschränkt hatte, und Gert, einen zahnlosen Mann mit funkelnden Augen, der geifernd sprach. Auch Len war abgebildet.