Die verratene Stadt erwachte.
Ich war bereits bis fast an die brennenden Häuser herangeflogen, als von einem der Türme unter mir ein Flügelträger startete, ein Junge in meinem Alter, also ein Junior. Er schoss auf mich zu, erkannte mich aber offenbar nicht. »Nach oben!«, brüllte er. »Shoky hat befohlen, die Freiflieger zu schnappen, die das getan haben!«
Na gut, dann halt nach oben. Ich stieg höher, entfernte mich aber nach und nach von den Flügelträgern, die einer nach dem andern hoch zum Himmel schossen. Natürlich dachte ich nicht daran, irgendwelche Freiflieger zu suchen. Eine Minute später machte ich eine Kehre und ging wieder tiefer.
Es brannten fünf oder sechs Häuser, inzwischen wütete schon nicht mehr das Schwarze Feuer, sondern ein ganz normales. Das grelle Licht blendete mich unangenehm, bis ich endlich auf die Idee kam, das Visier hochzuschieben. Überall wuselten Leute herum, vor allem Männer und Frauen. Flügelträger entdeckte ich kaum, die machten alle Jagd auf die nicht vorhandenen Angreifer.
Die Leute versuchten, die Brände zu löschen, wenn auch verdammt umständlich. Außerdem bewegten sie sich irgendwie völlig idiotisch. Als mir endlich aufging, woran das lag, mischte ich mich unter sie, packte immer wieder jemanden am Arm und befahl ihm, die Brille abzunehmen.
Die Flügelträger kannten keine Straßenlaternen. Der Gedanke, es könnte draußen hell sein vom Feuer, war ihnen einfach nicht in den Sinn gekommen!
Vor einem der Nachbarhäuser bildeten sich eine Kette, über die Wassereimer weitergereicht wurden. Aber das brachte nicht viel. Das Feuer kroch dem Wasser einfach davon, um sich über ein anderes Haus herzumachen. Nach und nach stellten die Leute den Versuch ein und starrten schweigend auf die dem Untergang geweihten Häuser.
»Man muss das Feuer mit Sand löschen!«, rief ich, ohne mich an jemand Speziellen zu wenden.
»In der Nähe gibt es aber keinen Sand, Danka.« Gert legte mir seine Hand auf die Schulter. Er atmete schwer, anscheinend war er den ganzen Weg hierhergerannt. »Niemand hatte mit diesem Angriff gerechnet…«
Die Häuser brannten. Wie in Zeitlupe brachen die Fensterläden ab, lautlos und irgendwie widerwillig zersprangen die Scheiben. Das Heulen des Feuers veränderte sich, die Flammen eroberten die Gebäude und fielen in ungezügelter Zerstörungswut über die Zimmer her.
»Konnten alle aus den Häusern fliehen?«, fragte Gert.
Ich wusste es nicht. Vermutlich schon. Sonst würden die Leute doch wohl nicht so ruhig herumstehen.
In diesem Moment flogen die Fensterläden im ersten Stock eines der brennenden Häuser auf, zusammen mit den Fensterflügeln. Das Zimmer dahinter brannte lichterloh. Die Silhouette des kleinen Jungen am Fenster wirkte fast wie ein Scherenschnitt. Er kletterte aufs Fensterbrett und blieb dort wie angewurzelt stehen. Unter ihm klaffte ein Abgrund von rund vier Metern, lag das Kopfsteinpflaster, auf dem das Schwarze Feuer tobte.
Die Menge verstummte. Mit einem Mal machte es bei mir klick: Die Umstehenden wussten ganz genau, dass nicht alle Leute aus dem Haus herausgekommen waren.
Neben mir seufzte Gert schwer. Er ließ meine Schulter wieder los.
Der Junge rührte sich immer noch nicht. Jeder Flügelträger, selbst der unerfahrenste Junior, wäre gesprungen. Das war doch immerhin eine Chance, wenn auch nur eine winzige!
Aber der Junge war höchstens sieben. Er hatte seine Höhenangst noch nicht verloren.
Gert sah mich hilflos an – genauer gesagt, gar nicht mich, sondern meine Flügel, die an meinen Schultern herabhingen. Begriff er denn nicht? Ich konnte nicht zu dem Jungen hinfliegen und ihn im Superman-Stil vom Fensterbrett angeln! Die Flammen würden mich erfassen, würden den dünnen Stoff der Flügel verschlingen und mich durchs Fenster saugen wie eine Turbine!
Doch, er begriff. Und stürzte daraufhin selbst zum Haus, sprang einfach durch die Pfützen aus brennenden Steinen und lief Zickzack! Seine hagere Figur wirkte bei dieser Akrobatik so komisch, dass ich beinahe gelacht hätte.
Was war bloß in mich gefahren?
»Spring!« Ich ahnte Gerts Schrei eher, als dass ich ihn hörte. Er stand unter dem offenen Fenster, die Hände ausgestreckt. Die Flammen krochen schon an seinen Beinen hoch. Die Hosen fingen an zu rauchen. »Spring!«
Der Junge wollte schon einen Schritt nach vorn machen, zögerte dann aber doch. Gert wartete ungerührt ab, als ob er den Schmerz gar nicht spürte.
Alles hat seinen Preis. Gert musste für sein Ja zur Zerstörung der Stadt bezahlen. Und mir war klar, wie die Rechnung aussah, die er am Ende präsentiert bekam.
Len und ich dürften den gleichen Preis zu zahlen haben.
Schließlich sprang der Junge. Genau in dem Moment, als das Gebäude vom Schwarzen Feuer verschlungen wurde und einstürzte. Es krachte genau auf die Stelle, wo Gert in den Flammen stand.
Die Menge wich zurück. Von den Trümmern sprühten Funken in alle Richtungen. Beißender Rauch hüllte alles ein, Hitzewellen wogten durch die Luft. Ich war als Einziger am Grab von Gert übrig geblieben. Nein, nicht als Einziger…
Len stand neben mir, ich hatte bloß nicht bemerkt, wie er gekommen war. Über das Gesicht meines Juniors rollten Tränen.
»Sag doch was…«, bat ich.
Ganz langsam drehte Len mir den Kopf zu. »Das ist meine Schuld, oder, Danka? Gert ist gestorben, weil ich…«
»Nein!«, widersprach ich. Ich packte ihn am Ärmel und zog ihn vom Feuer weg. »Das ist Schicksal. Dich trifft keine Schuld, Junior.«
Eine Hand schlug mir mit aller Wucht gegen die Brust. Keine Ahnung, ob mich dieser Jemand nur aufhalten oder ob er mich umwerfen wollte. Ich hob den Kopf. Shoky.
»Wie ihr es prophezeit habt!«, presste er mit tonloser Stimme heraus. Sein Gesicht war schwarz vom Ruß. Ohne Frage war er über den brennenden Häuser gekreist.
»Ja«, erwiderte ich. »Aber du wolltest uns ja nicht glauben…«
»Das tue ich auch jetzt nicht.« Shoky hob langsam die Hände und fuhr sich übers Gesicht, um den Ruß wegzuwischen. Doch die Spuren, die seine Finger im Gesicht hinterließen, wirkten nur noch schwärzer. »Das ist eine Provokation.«
Es klang, als wollte er sich mit seinen Worten selbst überzeugen.
»Der Krieg hat angefangen«, hielt ich ihm entgegen.
»Nein«, sagte Shoky. »Darauf fallen wir nicht rein. Wir werden nicht angreifen!«
Etwas in mir drinnen zerbrach. Sollte alles umsonst gewesen sein? Selbst Gerts Tod? War das der Preis, den Len und ich zahlen mussten?
»Du bist immer bereit, allen zu verzeihen, Shoky«, mischte sich da mein Junior ein. »Gert ist in den Flammen umgekommen – ist dir das denn völlig egal?«
»Gert?« Shokys Gesicht zuckte krampfhaft. Dass jemand aus seiner Familie dem Feuer zum Opfer gefallen war, würde ihn vielleicht von seiner Haltung abbringen.
»Die Freiflieger haben die Stadt angezündet«, fuhr Len fort. »Willst du ihnen das durchgehen lassen?«
Wie brachte er das fertig? Wie konnte er die Freiflieger für das verantwortlich machen, was er selbst vor einer halben Stunde angerichtet hatte? Wie konnte Len Gerts Tod als Trumpf ausspielen, wo seine Tränen noch nicht mal getrocknet waren?
»Halt den Mund!«, schrie Shoky. »Dieser Text stammt doch von Danka! Wir ziehen nicht in den Krieg! Diesen Überfall habt ihr „provoziert!«
Ich sah mich um. Ein Ring von Flügelträgern, Erwachsenen und Mädchen hatte sich um uns gebildet. Alle hatten sie überstürzt irgendwas angezogen, waren verwirrt und begriffen nicht, worum es eigentlich ging.
»Und wer ist für deinen Text verantwortlich, Shoky?«, flüsterte ich.
»Ich selbst.«
»Dann übernimm auch die Verantwortung!« Ich spürte, wie die bis eben leere Scheide plötzlich schwer am Gürtel hing. »Wenn du die Flügelträger nicht in den Krieg führst, werden wir uns einen anderen Anführer suchen.«