»Ich habe keine Angst«, wiederholte ich, als wäre das ein Zauberspruch.
Die Dunkelheit und die Stille folgten mir weiter den Berg hoch. Es wurde immer kälter, meine Finger starben fast ab, meine Füße spürte ich kaum noch. Als ich den nächsten Vorsprung erreichte, blieb ich lange liegen, um meine restlichen Kräfte zu mobilisieren. Dann erkundete ich mit der Hand den Felsen. Und endlich berührten meine Finger wieder weiches Gras.
Hatte ich es also doch geschafft! Ich rappelte mich hoch, krabbelte aus der steinernen Falle und gelangte zu einem Plateau, über das ein kalter Wind pfiff. Das Gras war nass vom Tau. Womöglich gab es in der Ferne ja noch andere Berge, aber mir kam es so vor, als ob um mich herum eine riesige freie Fläche lag. Hier hätte ich, ohne zu murren, auf den Sonnenkater gewartet – wenn ich was zum Anziehen und zum Essen gehabt hätte.
Normalerweise wäre ich jetzt völlig am Ende gewesen. Weil ich fror und weil ich mutterseelenallein allein war. Aber die geglückte Flucht vor den Wesen der Finsternis hatte etwas in mir verändert.
Zu Hause, da heulte ich schon, wenn ich mich im Hof prügelte oder meine Mutter mit mir schimpfte. Aber hier war es selbst zum Weinen viel zu schrecklich. Andererseits hätte ich mich auch nicht ins Gras legen, gottergeben vor mich hinfrieren und auf die Rückkehr des Katers warten können, denn ich platzte vor Stolz.
Deshalb stellte ich mich kerzengerade hin, legte die Hände an den Mund und rief: »He! He!«
Wahrscheinlich wollte ich einfach das Echo hören. Und mich überzeugen, dass es in dieser Dunkelheit noch andere Geräusche gab als das Klopfen meines Herzens.
Doch noch bevor das ferne Echo meinen schwachen Schrei wieder zu mir zurückbrachte, zitterte ein paar Schritt von mir entfernt das Gras. »Eine Bewegung und ich bring dich um«, sagte jemand, den ich in der Finsternis nicht erkennen konnte.
Angst bekam ich nur deshalb keine, weil die Stimme völlig anders klang als das zischende Pfeifen dieser geflügelten Wesen. Eigentlich hörte sie sich sogar wie die eines ganz normalen Menschen an.
»Ich rühr mich bestimmt nicht vom Fleck«, antwortete ich leise.
»Was hast du hier verloren?«, drang es an mein Ohr, offenbar aus größerer Nähe als gerade eben. Mein unsichtbarer Gesprächspartner pirschte sich also an mich heran.
Was ich hier verloren hatte? Tolle Frage! Ich warte auf einen Sonnenkater, erfriere allmählich und brülle mit letzter Kraft herum…
»Ich warte auf den Sonnenaufgang«, antwortete ich, wobei ich immer noch stocksteif dastand.
Jemand griff nach meiner Hand. Ich unterdrückte mit letzter Kraft einen Schrei.
Der andere sagte: »Der Sonnenaufgang wird kommen.« Es klang formelhaft. Dann fuhr die Stimme fort: »Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte dich umgebracht.«
»Ach ja?«, fragte ich automatisch. Jetzt hörte ich das leise Klirren von Metall.
»Hast du die Freiflieger gesehen?«
»Sie haben das Tal mit Schwarzem Feuer in Brand gesetzt«, sagte ich in der Hoffnung, die richtige Antwort zu geben.
»Das habe ich mitbekommen. Die waren hinter mir her.«
»Und dabei hätten sie mich beinah umgebracht.«
Diese Worte gaben vermutlich den Ausschlag.
»In dieser Gegend hätte ich doch nie jemanden vermutet«, rechtfertigte sich der Unbekannte verlegen. »Tut mir leid. Zum Glück ist dir ja nichts passiert. Gehen wir!«
Er zog mich sanft mit sich. Ich streckte die freie Hand vor, um nirgendwo dagegenzulaufen.
»Wo ist denn deine Brille?«, fragte er sofort.
»Ich habe noch nie eine gehabt.«
»Wirklich nicht? Pass auf, hier sind Bäume.«
Doch da war ich schon mit einem Aufschrei in einen zurückschnellenden Zweig gelaufen. Obwohl der andere mich nicht rechtzeitig gewarnt hatte, war ich nicht sauer auf ihn.
»Wir sind gleich da. Bück dich!«
Gehorsam bückte ich mich und spürte, wie fester Stoff mein Gesicht streifte. Ich zwängte mich dem Unbekannten hinterher durch einen schmalen Spalt, hinein in etwas Warmes, offenbar ein kleines Zelt.
»Mach den Eingang wieder zu! Ach, stimmt ja, du siehst ja nichts. Setz dich.«
Hinter mir raschelte der Stoff. Dann klatschte der Jemand in die Hände, und Licht blendete mich, das noch dazu von allen Seiten zugleich kam!
Mit geschlossenen Augen kämpfte ich in den nächsten Minuten gegen den unangenehmen Eindruck an, gemustert zu werden. Schließlich riskierte ich es, ein Auge zu öffnen. Blinzelnd sah ich mich um.
Ich saß wirklich in einem kleinen, runden Zelt. Seine Innenseite war schneeweiß und leuchtete schwach.
Vor mir hockte ein Junge in meinem Alter. Er war mager und hatte blonde Haare. Außerdem war er extrem blass, was mich allerdings überhaupt nicht wunderte. Er trug nur kurze, weiche Shorts aus grellblauem Wollstoff. An einem breiten Ledergürtel hing eine Scheide mit einem langen, dünnen Schwert.
Nach und nach legte sich meine Angst. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, einen erwachsenen Kerl mit fieser Visage vor mir zu haben, nicht aber einen Jungen in meinem Alter.
»Ich kenne dich gar nicht«, meinte der Junge misstrauisch.
»Ich dich auch nicht«, sagte ich. Im Zelt war es warm und hell. Die Wesen der Finsternis kamen mir jetzt wie ein wilder Traum vor. Angst hatte ich absolut keine mehr.
Der Junge setzte das Verhör fort. »Woher kommst du?« Seine Hand lag auf dem Schwert, als wolle er es gleich ziehen und sich in den Kampf stürzen.
»Von weit her«, erklärte ich ehrlich – ohne damit die geringste Information preiszugeben.
Trotzdem akzeptierte der Junge die Antwort. Er ließ aber noch nicht locker. »Wo sind deine Eltern? Wo sind deine Freunde?«
»Dort, wo es Licht gibt.« Aus purer Gemeinheit beschloss ich, meine Antworten so mysteriös wie möglich zu halten.
»Tut mir leid«, murmelte der Junge betroffen. »Meine sind… ach egal. Bist du ganz allein?«
Die Wahrheit ist im Grunde ungeheuer bequem, man braucht gar nicht zu lügen. Am Ende hört eh jeder, was er hören will.
»Ich war mit einem Freund unterwegs, aber der ist los, um Licht zu suchen.«
Ich hoffte, nach dieser Auskunft würden mir sämtliche Fragen nach meinem Freund erspart bleiben. Die Rechnung ging auf. Der Junge schniefte bloß und streckte mir die Hand entgegen.
»Len.«
»Danka.« Ich gab ihm die Hand.
»Ich war auch mit einem Freund unterwegs«, sagte er. »Aber er hat es nicht geschafft, aus dem Turm zu entkommen. Er war mein Senior.«
»Also mein Freund, das war mein Junior«, sagte ich aufs Geratewohl.
»Tatsächlich?« Ihm war seine Verblüffung deutlich anzumerken. »Was hast du jetzt vor?«
»Von hier verschwinden.«
»Willst du mit in unsere Stadt?«
Warum eigentlich nicht? Die Wärme in diesem Zelt lullte mich langsam ein. Ich musste aufpassen, bei unserer Unterhaltung nicht den Faden zu verlieren. Was sollte ich hier nackt in den Bergen sitzen und auf den Sonnenkater warten, der vielleicht gar nicht wiederkam? Da war es doch besser, mich auf den Weg in die Zivilisation zu machen…
»Werde ich da keine Schwierigkeiten bekommen?«, erkundigte ich mich zaghaft.
»Du kannst Fragen stellen!«, sagte Len. »Wenn ich für dich bürge, gibt’s keine Probleme! Und das sage ich nicht bloß so dahin!«
»Ich glaub dir ja«, versicherte ich matt. »Kann ich vielleicht vorher noch etwas schlafen, Len?«
»Ich bin aber auch ein Idiot!« Len sprang hoch und kramte in einer kleinen Tasche herum. »Du hast bestimmt Hunger, oder? Viel hab ich leider nicht…«
Kurz darauf machte ich mich über etwas Zähes her, vielleicht geräuchertes, vielleicht aber auch nur vertrocknetes Fleisch. Als ich es vertilgt hatte, hielt mir Len noch eine Handvoll Datteln oder etwas, das fast genauso aussah, und eine Flasche hin.