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»An den habe ich gar nicht gedacht«, antwortete Len leicht verblüfft. Er breitete die Arme aus, sein Flügeloverall blähte sich und verwandelte sich in ein Zelt.

Damit waren der Kater und mein Junior verschwunden. Nun baute auch ich mein Zelt auf.

In dieser Nacht hatte ich einen Traum, einen seltsamen Traum, in dem ich mit einem Freund sprach. Dabei hatte ich doch bisher nie einen Freund gehabt! Dieser erwachsene Freund hatte die Flügel eines Freifliegers. In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Aber das war auch nicht wichtig. Ich brauchte einen Rat, allein darauf kam es mir an, auf den Rat. Was sollte ich machen, wenn das Licht sich als schrecklicher herausstellte als die Finsternis? Mit wem sollte ich dann in den Kampf ziehen? Wie schaffte ich es, weder mich selber noch meine Freunde zu verraten? Ich erzählte ihm alles, was passiert war, als ob wirklich ein Gesprächspartner vor mir stünde, obwohl ich doch genau wusste, dass ich schlief und verzweifelt an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit entlangbalancierte. Ich brauchte einen Rat – von meinem Freund im Traum, von meinem zweiten Ich, vom Licht, von der Finsternis…

»Versuchst du immer noch, Licht und Finsternis gegeneinander abzuwägen?«, fragte derjenige, von dem ich träumte.

»Ja.«

»Das bringt nichts. Vergleiche nicht eine Wahrheit mit einer anderen. Vergleiche die Menschen.«

»Warum?«

»Weil nicht der Glaube uns macht, sondern wir den Glauben. Kämpfe für diejenigen, die du liebst. Wenn du dabei auf der Seite des Lichts stehst, können diejenigen, die du liebst, stolz auf dich sein.«

»Ja«, sagte ich, während ich aufwachte. »Jetzt habe ich es verstanden.«

Wind wehte und schüttelte den Unterstand durch. Ich lauschte seinem jämmerlichen Pfeifen, bis ich hörte, wie sich Lens Zelt zurückverwandelte. Daraufhin stand auch ich auf, streckte die Arme aus und der feste Stoff schrumpfte knatternd zusammen.

Der Kater saß in Lens Armbeuge, sein Fell hatte sich vor Aufregung gesträubt.

»Es wird Zeit.« Der Kater nickte mir mit einem misstrauischen Blick zu. »Bist du bereit?«

»Ja. Du kannst stolz auf mich sein.«

Der Kater verstand nicht, was ich meinte.

»Wir brauchen uns nicht länger zu verstecken«, sagte er. »Die Flügelträger und die Freiflieger kämpfen inzwischen auf Leben und Tod. Fliegen wir zum Turm!«

»Und dort?«, fragte ich. Mir war wieder eingefallen, dass alle Flügelträger gestorben waren, die den Turm am Pass der Siebzehn angegriffen hatten. »Sollen wir uns etwa durch eine der Mauern graben? Oder landen wir oben auf der Plattform, wo uns alle sehen können?«

»Wir werden schon reinkommen«, antwortete der Kater. »Dort gibt es viele Türen… für solche wie uns.«

Wir stiegen in den kalten Himmel auf, und der Turm wuchs uns sofort entgegen, kroch hinter den Bergen hervor, diese schwarze Nadel, die in die Wolken stach. Er war ganz nah und die zehn Flugminuten verschmolzen zu einem einzigen kurzen Moment. Wie sehr ich mich in diesen Tagen an die Flügel gewöhnt hatte…

Einen Eingang fanden wir tatsächlich auf Anhieb. Der Kater sprang von Lens Arm runter und flog zielsicher auf eine der Schießscharten zu, die in den Turm in einer Höhe von zehn Metern eingelassen waren. Die Öffnung war durch ein feines Gitter gesichert, durch das nicht mal der Kater kriechen konnte. Er hing vor dem Spalt in der Luft und schaute uns erwartungsvoll an.

Aus irgendeinem Grund wollte er, dass ich die folgenden Worte aussprach.

»Versuch’s mal, Len«, bat ich meinen Junior.

Als das Gitter bei der Berührung seiner Hände in der Wand verschwand, zwängte ich mich als Erster durch die Schießscharte. Ich konnte es nicht mehr erwarten, die Gesichter meiner Feinde zu sehen. Und ich wollte endlich das Gewicht des Wahren Schwerts in meiner Hand spüren.

Aber niemand lauerte uns auf.

6. Der Wahre Feind

Im Turm war es dunkel und still. Wir befanden uns in einem kleinen Raum, der eine halbrunde Wand hatte. Durch eine offene Luke in der Decke führte eine Leiter, ein dünnes und unsolides Metallding, das überhaupt nicht hierherpasste. An der Wand brannte eine Fackel mit schwarzer Flamme. Durch das Visier konnten wir sogar in ihrem Licht, diesem rotlila Schummerlicht einer Dunkelkammer, etwas erkennen.

»Sie sind oben«, sagte Len tonlos.

»Sicher?«, fragte ich.

»Ich spüre sie«, erklärte Len ruhig. »Sie… sie rufen mich.«

Der Sonnenkater schielte alarmiert zu Len rüber, marschierte dann schweigend zur Leiter hin und flog parallel zu ihr durch die Luke ins nächste Stockwerk.

»Len!« Ich versuchte den kalten Klumpen, der in meiner Brust wuchs, zu ignorieren. »Du solltest da besser nicht raufgehen. Ich schaff das schon allein. Ich habe ja das Wahre Schwert.«

»Noch bin ich ja kein Freiflieger.« Lens Lippen verzogen sich zu einem seltsamen Lächeln, wie ich es noch nie an ihm gesehen hatte. »Ich kann durchhalten… solange wir zusammen sind.«

Ich stellte mich dicht vor ihn hin, fasste ihn beim Ellbogen und sah ihm in die Augen. Sie waren wie immer. Nur ganz tief unten, im schwarzen Abgrund der Pupille, zitterte der dunkelrote Widerschein der Fackel.

»Len, wir lieben dich. Wir glauben an dich…«

Das hätte ich mir auch sparen können. Das hier war weder der Ort noch der Zeitpunkt für solche Worte. Sie hingen in der Dunkelheit, leer und leblos, womit sie vorzüglich zu diesem Turm der Freiflieger passten – aber nicht zu Len und mir. Freiflieger können ebenfalls lieben und glauben, nur sehen ihre Liebe und ihr Glaube anders aus.

»Gehen wir, Danka«, meinte Len. »Der Kater wird schon wütend, das spüre ich.«

Er nahm inzwischen also schon Wut, Bosheit und Schmerz wahr!

»Gut, Len.« Ich nickte.

Die Eisensprossen der Leiter waren kalt. Ich kletterte voran, Len folgte mir. Weit oben, über unseren Köpfen, schwirrte als winziger orangefarbener Punkt der Sonnenkater.

Nach einer Weile gelangten wir in einen großen, runden Raum. Auch er war leer. Allerdings gab es hier mehr Fackeln, ihr purpurrotes Licht brannte in den Augen. Mitten im Raum schlängelte sich eine Wendeltreppe weiter nach oben.

»Müssen wir etwa ganz bis zur Spitze rauf?«, fragte ich.

»Nein.« Len schüttelte den Kopf. »Höchstens noch hundert Meter, mehr nicht.«

Als ich mir einen Anstieg von hundert Metern vorstellte, fingen meine Beine an, zu zittern. Und dann würden wir uns da oben auch noch mit den Freifliegern schlagen müssen…

»Hast du etwa Angst?«, fragte der Kater und sah mich scharf an.

Statt zu antworten, stapfte ich zur Treppe. Der Boden in dem Raum war mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt, da und dort waren Luken eingelassen, aus denen Eisenleitern herausragten. Das hier musste eine Art Zentrale der Wachposten sein, zu der alle Wege aus den unteren Stockwerken des Turms führten. Nur gab es keine Wachen mehr, denn alle waren in den Kampf gezogen…

»Danka!«, schrie Len verzweifelt.

Ich wirbelte herum – und sah, wie aus der Luke, an der ich gerade vorbeigekommen war, ein schwarzer Schatten herausschoss. Der Freiflieger landete schwer und seine Krallen kratzten den Boden auf. Er starrte Len an. Über sein Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns. Dann betrachtete er den Kater und verzog das Gesicht, als tue ihm etwas weh.

Meine Freunde interessierten ihn nicht weiter. Bedenkenlos kehrte der Freiflieger ihnen den Rücken zu und steuerte auf mich zu. Angesichts seiner sicheren und festen Schritte schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Das ist mein Wahrer Feind! Ich griff mit der Hand an den Gürtel und wunderte mich nicht im Geringsten, dort den Griff des Wahren Schwerts zu spüren.

»Du bist gekommen«, sagte der Freiflieger. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte, aus seiner Stimme Freude herauszuhören. »Du bist einer von uns. Ich wusste es.«