Nun erkannte ich auch das Gesicht, das dem von Shoky so ähnelte.
»Ich bin keiner von euch!«, widersprach ich.
»Doch, doch«, sagte der Freiflieger in beruhigendem, sanftem Ton.
Ich grübelte immer noch darüber nach, ob ich das Wahre Schwert ziehen sollte, und vergaß dabei ganz, dass ich ja auch noch ein normales besaß.
In dem Moment sprang der Sonnenkater den Freiflieger an. Er landete auf dem Kopf des Freifliegers und rammte ihm laut fauchend die Krallen ins Gesicht.
Der Freiflieger schrie auf. Er riss die Hände hoch und wollte den Kater von seinem Gesicht wegzerren, konnte ihn aber nicht mal berühren. Das Fell des Katers loderte in einem blendenden weißen Licht, und vom Gesicht des Freifliegers stieg Rauch auf, als hätte das Licht ihn tatsächlich verbrannt.
Meine Betäubung ließ nach. Ich zückte das Schwert des Tuak und stürzte mich auf den Freiflieger. Der wälzte sich jedoch bereits auf dem Boden, presste die Hände vors Gesicht und winselte leise. Der Kater sprang von ihm runter und schwebte in der Luft. Rauchende schwarze Tropfen fielen von seinen Krallen auf den Boden.
Ich habe nur zwanzig Krallen, hatte der Kater mal gesagt. Zwanzig scharfe Krallen, wie sich jetzt gezeigt hatte!
Ich setzte dem Freiflieger meine Schwertspitze an die Kehle. Der hörte sofort auf zu heulen und rührte sich nicht mehr.
»Ich bin keiner von euch«, wiederholte ich, als ob es allein darum ginge.
»Das bist du doch«, entgegnete der Freiflieger überraschend ruhig. »Hast nur noch nicht die richtige Seite gewählt…«
»Und ob ich das habe!«
»Das kommt dir bloß so vor.«
Len, der sein Schwert ebenfalls gezogen hatte, kam zu uns. Irritiert sah er mich an: Worauf wartest du denn noch?
»Warum hast du mich nicht angegriffen, Freiflieger?«, flüsterte ich.
»Du hast mich entkommen lassen. Damals in den Bergen. War seitdem meine Pflicht, dich auf unsere Seite zu ziehen.«
»Soll ich ihn töten?«, fragte Len.
Ich schüttelte den Kopf.
»Das hättest du nie geschafft, Freiflieger. Ich habe meine Seite vor langer Zeit gewählt.«
»Dann bring mich um«, meinte der Freiflieger in einer Mischung aus Rat und Befehl.
»Das werde ich nicht tun«, sagte ich, wobei ich mich selbst über meine Worte wunderte. »Hau ab. Geh, wohin du willst. Die Finsternis wird untergehen und ihr alle mit ihr. Versteck dich besser im tiefsten Keller, denn hier wird es bald Wahres Licht geben.«
»Du dummer Junge. In unseren Kellern gibt es zu viel Licht. Dort kann ich mich nicht verstecken.«
»Was für ein Licht?«, mischte sich der Kater sofort ein. Der Freiflieger schielte zu ihm hin. Das Blut aus den unzähligen tiefen Kratzern war ihm in die Augen gelaufen. »Es gibt nur ein Licht und nur eine Finsternis. Wir bauen unsere Türme auf einem Fundament aus Sonnensteinen.«
»Um die Steine auf diese Weise vor den Flügelträgern zu verstecken?« Ich war mir sicher, recht zu haben.
»Nicht nur. Die Finsternis schöpft nämlich auch Kraft aus dem Licht.« Der Freiflieger setzte ein schiefes Lächeln auf, legte den Kopf in den Nacken und musterte Len. »Genauso wie das Licht aus der Finsternis«, schloss er dann.
Len stach zu. Ruckartig und ohne auszuholen, denn er hielt sein Schwert bereits zu nahe an der Brust des Freifliegers. Trotzdem reichte seine Kraft.
»Weshalb hast du das gemacht?«, fragte ich, während ich beobachtete, wie um die Klinge herum schwarzer Sand aus dem Freiflieger herausrieselte.
»Er ist unser Feind«, erklärte Len bloß.
Die nächsten Sekunden standen wir schweigend neben dem schwarzen Sandberg, der noch die Form des Körpers zeigte.
»Ich gehe jetzt runter«, erklärte der Kater schließlich.
»Ja, gehen wir«, stimmte ich ihm zu.
»Hier liegt ein Missverständnis vor. Ihr beide geht nach oben. Aber ich muss nachsehen, ob es da unten Sonnensteine gibt.«
»Wozu?«
»Sie bedeuten Kraft.«
Erst da begriff ich, dass er tatsächlich nicht mit uns hinaufgehen würde, um den Herrn der Finsternis zu suchen.
»Können wir denn ohne diese Kraft nicht gewinnen?«, wollte ich wissen.
»Diese Kraft brauchen wir für etwas anderes.« Der Kater war ganz offenbar nicht in der Stimmung für Erklärungen. »Geht jetzt! Und hab keine Angst, Danka. Ich bin sicher, dass du deinen Wahren Feind erkennen wirst… und dass das Wahre Schwert dir beisteht.«
Eine Glaswand schien uns voneinander zu trennen. Ich protestierte nicht, nickte nur und meinte: »Die auf dem Weg nach oben grüßen dich, Kater.«
Entweder verstand er die Anspielung wirklich nicht, oder er tat so, als ob. Jedenfalls stapfte er schnurstracks zu der Luke, aus der der Freiflieger gekommen war, und sprang in den dunklen Abgrund. Sofort wurde es im Raum schummriger.
»Vielleicht sollten wir lieber warten, bis er wieder da ist?«, meinte Len mit einer Stimme, die ganz fremd klang.
Ich sah ihn mir lange und aufmerksam an. Schließlich schob ich das Visier hoch. Zum Teufel mit diesem purpurroten Halbdunkel! Ich rang mich dazu durch, etwas zu tun, was ich mir geschworen hatte, nie wieder zu tun: Ich betrachtete Len mit dem Wahren Blick.
Len verschmolz fast mit der Finsternis. Von dem, was meinen Junior einmal ausgemacht hatte, war nichts mehr übrig. In seinem Körper, der immer noch der Körper eines Menschen war, herrschten ausschließlich Dunkel, Finsternis und Nacht.
»Len, dort in den Bergen kämpfen die Flügelträger in diesem Moment gegen die Freiflieger«, sagte ich. »Sie lenken die Freiflieger von diesem Turm hier ab. Wenn wir jetzt zögern, werden alle unsere Freunde umgebracht.«
Bildete ich mir das nur ein oder löste sich die Finsternis in Len wirklich ein wenig auf?
»Daran habe ich nicht gedacht…«
»Halte durch, Len. Wir sind fast am Ziel.«
Eine ganze Weile standen wir einander gegenüber. Ich hatte keine Angst mehr vor Len. Und er selbst schämte sich nicht mehr für das, was die Freiflieger mit ihm getan hatten.
»Möchtest du vielleicht hier warten?«, fragte ich.
»Das würde alles nur noch schlimmer machen.« Len wich meinem Blick aus.
»Dann lass uns raufgehen.«
Wir stiegen die Wendeltreppe weiter hinauf, dorthin, wo mein Wahrer Feind auf mich wartete. Noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, wer es war: Der Herr der Finsternis oder… jemand ganz anderes.
Und das Wahre Schwert hing schwer in der Scheide und machte keine Anstalten, sich wieder zu dematerialisieren. Die Leiter führte uns aufwärts durch die steinerne Röhre des Turms, dem Kampf entgegen, der vielleicht unser letzter sein würde.
Es war ein sehr langer Weg.
Nachdem wir gut fünfzig Meter hochgeklettert waren, mussten wir wohl oder übel anhalten. Die Erschöpfung verlangte ihren Tribut. Natürlich hätten wir uns Kraft von den Flügeln holen können, aber dann hätten wir keine Reserve mehr für den Kampf gehabt.
Wir standen beide auf einer Stufe, Len lehnte mit dem Rücken an der Wand, ich am Geländer. Der runde Schacht war breit genug, um hinunterzufallen, aber zu schmal, um die Flügel zu spreizen. Da unsere Knie aneinanderstießen, spürte ich, wie Lens Beine zitterten.
Meine natürlich auch.
»Ich habe Angst, Danka«, gab Len plötzlich zu.
»Vor dem Herrn der Finsternis?«
»Äh… ja klar… vor dem auch.«
Entlang der Wendeltreppe gab es kaum Fackeln und Len konnte mich vermutlich selbst mit dem Visier nur schlecht erkennen. Dafür sah ich, wie sein Gesicht kreidebleich wurde.
»Wenn etwas passiert, Danka, denk an den Schlüssel. Er zerstört nicht nur die Flügel, sondern auch denjenigen, der sie trägt.«