»Warum hältst du mich denn im Arm?«, fragte Len mit schwacher Stimme. In dem ganzen Gepolter hörte ich ihn kaum. Trotzdem wartete ich noch ein paar Sekunden ab, bis er sich bewegte und die letzten Tropfen Licht in ihn eingedrungen waren.
Erst dann sprang ich auf. »Weg hier, Len!«, brüllte ich, obwohl ich davon überzeugt war, dass es für uns zu spät war.
Ich schubste ihn zu dem Loch in der Mauer. Viel Kraft brauchte ich dafür nicht, denn inzwischen hatte sich der Turm stark geneigt und war kurz vorm Einstürzen. Als ich sah, dass Len zögerte, weil er nicht begriff, was hier vor sich ging, gab ich ihm einen Tritt in den Hintern. Er taumelte und fiel in die Tiefe. Dann sprang ich selbst. Im Fallen breitete ich die Flügel aus.
Der Turm hatte anscheinend nur auf diesen Moment gewartet. Die oberen Stockwerke brachen ab und segelten sanft nach unten, wobei sie sich noch in der Luft in einzelne Steinblöcke auflösten. Dann knickte der Turm in der Mitte ein, genau an der Stelle, wo die Mauer fehlte. Ich sah, wie Len, der etwas unter mir flog, die Flügel spreizte. Vor dem leuchtenden Untergrund hob sich seine Silhouette klar wie eine Zeichnung ab. Als der Steinregen auf uns einprasselte, wusste ich, dass wir ihm nicht entkommen konnten.
In diesem Moment spaltete sich unter uns der Boden und eine Sonne stieg auf.
Sie erinnerte überhaupt nicht mehr an den Kater. Es war eine ganz normale Sonne! Okay, sie war ziemlich klein, hatte vielleicht nur einen Durchmesser von rund zwei Kilometern und wirkte etwas puschelig. Wir fielen direkt in sie hinein.
Die schwarzen Steine, aus denen der Turm erbaut war, loderten auf und zerfielen zu Staub. Wir dagegen schwebten einfach durch die Sonne hindurch wie zwei Staubkörner durch einen gigantischen Sonnenstrahl.
Ich spürte nichts als Wärme. Na ja, ich hatte auch noch den Eindruck, eine raue Zunge würde mir über die Wange lecken. Aber vielleicht täuschte ich mich da auch.
Drei Kilometer vom Turm entfernt landeten wir. Da existierte der Turm allerdings schon gar nicht mehr. Nur eine riesige Staubwolke hing noch in der Luft. Am Himmel strahlte die Sonne, die auf ihrem Weg zum Zenit war. Momentan wirkte sie etwas zu groß, aber natürlich würde der Kater in eine solche Höhe aufsteigen, dass sie wie eine echte Sonne aussah. Dann würde er um diese Welt kreisen. So lange, wie ihn alle liebten.
Ich stand da, betrachtete die Sonne und weinte. Len kam mit angelegten Flügeln zu mir.
»Man darf doch nicht in die Sonne schauen, Danka«, brachte er zaghaft hervor.
»Doch«, flüsterte ich, nachdem ich den Kloß in meinem Hals runtergeschluckt hatte. »Doch, Len, in die schon. Das ist unser Kater.«
Wir blieben so lange stehen, bis die Sonne wie eine echte aussah. Das heißt natürlich: wie eine Sonne von der Art, wie ich sie kannte.
»Was ist denn mit mir los gewesen, Danka?«, fragte Len.
»Die Trümmer haben uns unter sich begraben«, log ich. »Der Kater hat uns dann gerettet. Danach ist er zu einer Sonne für deine Welt geworden.«
»Ach ja, wir waren verschüttet«, meinte Len, wenn auch nicht gerade überzeugt. Er betastete seinen an der Brust aufgerissenen Flügeloverall, stellte jedoch keine weiteren Fragen.
»Jetzt werdet ihr erleben, wie die Sonne auf- und untergeht«, sagte ich zu Len. »Und nachts könnt ihr Sterne sehen, das sind die Sonnen der anderen Welten. Dann gibt es noch den Regenbogen und… und…«
Ich musste schon wieder weinen. Len nahm mich in den Arm.
»Sag mal, Danka«, meinte er, »habe ich mir das nur eingebildet oder ist die letzte Verborgene Tür in deine Welt…«
»Sie war im Turm.«
»Und was willst du jetzt machen?«
Ich sagte kein Wort.
»Und der Kater? Konnte er dich nicht nach Hause bringen, bevor er sich in die Sonne verwandelt hat?«
Auch diesmal gab ich keine Antwort.
»Ich… ich danke dir.«
»Jetzt hör schon auf mit dem Scheiß«, blaffte ich ihn an, wobei ich spürte, wie die Leere in meiner Brust schmolz, und zwar völlig, bis auf den letzten Rest. An ihre Stelle trat Licht. Oder Wärme. »Du an meiner Stelle hättest dasselbe getan.«
»Und wer war dein Wahrer Feind, Danka?«
»Frag mich das nicht, ja?«
»Okay. Wollen wir gehen?«
»Warum gehen? Wir fliegen.«
Ich breitete die Flügel aus. Die armen Dinger hatten ordentlich was abgekriegt! Vom heißen Boden stieg Wind auf, den ich abpasste, ohne vorher mit dem Wahren Blick hinzusehen. Len folgte mir. Wir stiegen immer höher, ohne ein Wort zu sagen, immer weiter nach oben, als wollten wir den Kater einfangen, um uns von ihm zu verabschieden oder ihm einfach für alles zu danken. Doch als die Landschaft tief unter uns wie ein bunter, wenn auch etwas düsterer Teppich dalag – nämlich ganz in Schwarz, Grau und Braun, mit nur wenigen dunkelgrünen Grasflecken – und als uns die Luft ausging, da wussten wir, dass die Sonne zu hoch für uns stand.
»Jetzt wird alles anders!«, rief ich Len zu, während ich gierig einatmete. »Weißt du, wie schön bald die Wälder, Felder und Flüsse aussehen werden, wenn du über sie drüberfliegst?«
»Weißt du es denn?«
»Ich kann es mir vorstellen!«
Len lachte. Ein kühler Wind strich über uns, flüsterte mit leiser Stimme und erlaubte uns, zu segeln. Und nirgends gab es noch Finsternis. An keiner Stelle. Ich wusste, dass sogar dort, wo das Licht des Sonnenkaters noch nicht schien, die Finsternis der ganz normalen Nacht gewichen war. Die Flügelträger würden die Sterne sehen, die Freiflieger mussten sich in den tiefsten Höhlen verstecken.
»Wir haben eine Sonne!«, schrie Len.
»Wir haben Licht!«, stimmte ich ein.
»Wir haben Flügel!«
»Wir haben uns!«
Wir lachten wieder los und steuerten im Gleitflug auf die Berge zu, dorthin, wo die Flügelträger gegen die Freiflieger gekämpft hatten. Wir brauchten uns nicht abzusprechen, wohin wir fliegen wollten.
Die anderen erwarteten uns offenbar schon.
Eine kleine Gruppe von Flügelträgern stand auf einem Hochplateau, von wo aus sie die Reste des Turms sehen konnten. Die Ruinen interessierten sie aber gar nicht, ja, nicht mal die Sonne fesselte sie – sie hatten nur Augen für uns. Als ich Shoky ausmachte, freute ich mich. Dann sah ich allerdings, wie viele tote Flügelträger ringsum auf den Felsen lagen – und meine ganze Freude verpuffte.
»Ihr habt uns die Sonne zurückgebracht«, sagte Shoky, nachdem wir gelandet waren. In seiner Stimme hörte ich keine Freude, sondern nur Verwunderung.
»Wir alle haben sie zurückgebracht«, widersprach ich, doch Shoky schüttelte nur den Kopf.
»Und was jetzt?«, fragte er. Er stellte die Frage in einem Ton, der nicht etwa spöttisch war, sondern so, als ob er von mir einen Befehl erwartete.
»Was ihr wollt!«, mischte sich Len ein. »Wer möchte, kann für die Händler arbeiten. Oder ihr könnt einfach leben.«
Shoky nickte ergeben.
»Sind viele umgekommen?«, fragte ich überflüssigerweise.
»Vor allem von den Erwachsenen«, antwortete Shoky. »Die Freiflieger haben sie erwischt, bevor wir zuschlagen konnten.«
»Hat jemand was zu essen?«, erkundigte sich Len.
Von allen Seiten streckten sich uns Hände entgegen, mit den Resten des jeweiligen Flugproviants. Die Flügelträger wussten, in welchem Maße die Flügel unsere Kraft aufsaugten, und niemand hielt die Frage für frech. Während wir aßen, erzählte Shoky uns, wie der Kampf verlaufen war, wie die Freiflieger die Erwachsenen in eine Schlucht abgedrängt hatten, aber gleichzeitig ihre Verteidigungsposten nicht verlassen hätten. Erst als sie nicht mehr mit einem Angriff rechneten und ihre Aufmerksamkeit nachließ, hätten die Flügelträger sie aus dem Hinterhalt angreifen können.