»Und du?«, protestierte ich schwach, während ich mich bereits auf die Datteln stürzte.
»Wenn wir zusammen zurückgehen, bist du doch der Senior«, erklärte Len. »Davon abgesehen habe ich heute schon was gegessen.«
Vielleicht war das nicht besonders fair – aber ich widersprach ihm nicht. Ich trank die Flasche mit dicker, süßer Milch leer (sie schmeckte wie leicht verdünnte, gesüßte Kondensmilch) und linste dann zu Len rüber. Er hatte inzwischen eine kurze Decke auf dem Boden ausgerollt.
»Schlaf jetzt, dann sehen wir weiter«, schlug Len vor, der mich fast auf die Decke schubste. »Na komm, leg dich hin.«
Er verhielt sich wirklich merkwürdig. Einerseits so, als sähe er in mir tatsächlich den Anführer, den er bedienen musste wie… wie ein Soldat seinen Oberst. Andererseits verhätschelte er mich, als wäre ich ein Baby.
Gründlich darüber nachdenken konnte ich aber nicht mehr. Kaum hatte ich mich ausgestreckt, ratzte ich schon weg. Das hatte ich nun davon! Was musste ich auch stundenlang mit leerem Magen in der Kälte hocken und mir dann, kaum dass ich im Warmen saß, den Bauch vollschlagen?!
Ich wurde wach, weil Len auf mir lag und mir mit der Hand den Mund zuhielt. Im Halbschlaf glaubte ich, er wollte mich ersticken. Deshalb setzte ich zum Gegenangriff an und rammte ihm den Ellbogen in den Magen. Er stöhnte leise.
»Pst!«, flüsterte er mir dann ins Ohr. »Draußen ist eine Patrouille. Kein Wort jetzt!«
Ich erstarrte. Knapp über uns, das hörte ich jetzt auch, schlugen langsam und hallend riesige Flügel.
Aneinandergepresst lagen Len und ich da, während etwas durch die Luft glitt, das mir allein durch sein Geräusch Angst einjagte.
Endlich verschwand das Flügelschlagen in der Ferne. Wir setzten uns auf.
»Er ist abgezogen«, sagte Len leise. »Zum nächsten Turm.«
»Ist auch besser so«, antwortete ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, was hier eigentlich vor sich ging.
»Aber er hat uns gesehen!«, jammerte Len plötzlich. So, wie er schluchzte, würde er bestimmt gleich losheulen.
Dieses Märchenland hatte echt wackere Krieger!
»Len!« Ich legte ihm den Arm um die Schulter. »Beruhige dich! Wir müssen uns dünne machen!«
»Was? Was heißt das?«
»Fliehen, abhauen, die Beine in die Hand nehmen…«, sagte ich.
»Klar, sicher.« Hastig packte Len die Sachen. Er stopfte die Decke in die Tasche, öffnete das Zelt (woraufhin das Licht sofort erlosch) und warf die Tasche nach draußen. Aus der Dunkelheit drang Kälte herein.
»Geh raus!«, befahl er in strengem Ton, als hätte ich etwas angestellt.
Schulterzuckend tastete ich nach dem Ausgang.
»Warte…« Er drückte mir ein kaltes, elastisches Band in die Hand. »Setz die Brille auf!«
»Und du?«
»Ich hab doch die Flügel!«, sagte Len verwundert.
Sobald ich aus dem Zelt gekrabbelt war, hielt ich mir die Binde vor die Augen. Ich fuhr zusammen. Plötzlich konnte ich in der Finsternis etwas erkennen. Eine hügelige Ebene mit Bergen am Rand. Um uns herum wuchsen vereinzelte Bäume. Als ich nach oben sah, prallte mein Blick förmlich an einem tief hängenden, grauen Himmel ab. Er wirkte wie aus Blei gegossen. Ich verknotete die Binde am Hinterkopf und drehte den Kopf ein wenig, um zu sehen, ob diese seltsame Brille fest saß. Alles klar, die würde nicht rutschen. Das Ding hatte nichts mit diesen Nachtsichtgeräten zu tun, die ich aus dem Kino kannte und die einen Gegenstand umso klarer erkennbar machen, je wärmer er ist. Diese Brille hier verwandelte die Nacht in schwaches Dämmerlicht, mehr nicht.
Hinter mir raschelte etwas. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie das kleine, runde Zelt in sich zusammenfiel. Allerdings sackte es nicht einfach weg, sondern schrumpfte ganz zielsicher, bis es den Jungen, der mittendrin stand, einhüllte und sich in eine Art Overall mit angeknüpftem Umhang verwandelt hatte. An Lens Armen hing in breiten Falten schwarzer Stoff. Sollten das etwa die Flügel sein?
Len kam auf mich zu. Seine Augen schützte ein kleines, durchsichtiges Visier, durch das er bestimmt ebenfalls in der Dunkelheit sehen konnte. Er griff nach der Tasche.
»Das schaffen wir sowieso nicht«, sagte er. »Du hast ja keine Flügel. Und zu Fuß kommen wir hier nicht weg.«
Die Worte machten mich wütend. Wenn ich mir vorhin den Kopf darüber zerbrochen hätte, ob meine Flucht glücken wird, würde ich vermutlich immer noch da unten im Tal auf das Schwarze Feuer warten!
»Wo liegt deine Stadt?«
Nach kurzem Zögern wies Len in die Richtung. »Dort! Wir müssen über einen Fluss fliegen… und dann noch ein Stückchen zu Fuß gehen.«
»Ist es weit bis zum Fluss?«
»Zu Fuß eine halbe Stunde.« Len sah mich mit neuer Hoffnung an. »Hast du eine Idee?«
»Ich weiß noch nicht genau«, sagte ich vage. »Auf alle Fälle hindert dich niemand daran, wegzufliegen.«
Len wirbelte herum. »Danka! Es war nicht meine Schuld, dass ich meinen Senior verloren habe, das schwöre ich!«
»Ich glaube dir ja«, versicherte ich, ohne überhaupt zu wissen, wovon er redete.
»Warum schlägst du mir dann vor, dich im Stich zu lassen?«
Ich griff nach seiner Hand. Unter dem schwarzen Stoff fühlten sich die Finger hart und angespannt an.
»He, Len! Das habe ich doch gar nicht gemeint. Aber wenn sich einer von uns retten kann, dann…«
»Und umgekehrt? Würdest du mich im Stich lassen?«
Ich starrte ins Nichts. Was würde ich machen, wenn die Typen mit dem Schwarzen Feuer wieder am Himmel auftauchen würden und ich fliegen könnte, aber ein Junge, den ich kaum kenne, nicht? Was würde ich dann tun? Ich wusste es nicht.
Zum Glück machte sich Len auf mein Schweigen seinen eigenen Reim.
»Siehst du, Danka. Und ich lasse dich auch nicht im Stich. Ehrenwort.«
»Gehen wir runter zu dem Fluss, den du erwähnt hast«, schlug ich vor. »Und zwar schnell.«
So brachen wir auf. Mit der Brille bereitete mir das gar keine Schwierigkeiten. Nach zwanzig Minuten kamen wir an einen steilen Abhang. Unter uns lag der Fluss.
Ein ganz normaler Bergfluss, sehr schnell, ziemlich schmal, mit Steinen, die hier und da aus dem Wasser ragten.
Mir kam meine Idee sofort idiotisch vor, aber das durfte Len nicht mitbekommen. »Wir klettern runter zum Fluss«, sagte ich. »Dort verwandelst du deinen Overall in ein Boot…«
»Wozu denn das?«
»Das Ding ist doch wasserdicht, oder?«
»Natürlich!«
»Prima. Wir setzen uns einfach rein, lassen es zu Wasser und fahren bis zur Stadt.«
»Wie bitte?«, fragte Len empört. »Ist dir klar, wie die Flügel danach aussehen?«
»Und ist dir klar, wie wir aussehen, wenn diese fliegenden Monster uns erwischen?«
Len schluckte. »Dann bring ich uns erst mal runter. Halt dich fest, Senior!«
Unsicher trat ich hinter ihn und wollte schon die Huckepackposition einnehmen. Len zeigte mir einen Vogel. »Fliegt man in deiner Stadt etwa mit den Lasten auf dem Rücken?«
»Wir fliegen überhaupt nicht mit Lasten«, gestand ich.
»Mach einfach, was ich dir sage!«
Len verlangte, dass ich mich vor ihn hinstellte und die Arme um seinen Hals, die Beine um seine Taille schlang. In amerikanischen Actionfilmen tragen die tapferen Polizisten auf diese Weise die Kinder fort, die sie gerade aus den Klauen der Terroristen gerettet haben. Aber Len war kein Polizist mit der Figur eines Bodybuilders. Er schwankte und ging tief in die Knie. Trotzdem trat er an den Rand der Schlucht. Kaum hatte ich einen kurzen Blick in den Abgrund geworfen, da hätte ich am liebsten auf das Experiment verzichtet.
»Len«, setzte ich an. Aber er hörte nicht auf mich. Er machte einfach einen Schritt in die Tiefe.