Es war nicht das Mädchen, das Ware den Brief gebracht hatte, vor nun schon so vielen Wochen, aber irgend etwas an ihr erinnerte ihn an jemanden, den er einst gekannt hatte. Er konnte sich aber nicht erinnern, wer das gewesen war. Sie war einfach wunderschön; nicht sehr hochgewachsen — einen halben Kopf kleiner als Jack, schlank und offensichtlich kaum älter als achtzehn —, hatte sehr helle Haut, blaue Augen und einen taufrischen, unschuldigen Gesichtsausdruck. Das Gesicht war doppelt pikant, weil die Linien ihrer Züge so edel, ihre Haut so zart wie feines Pergament war.
Sie war elegant angezogen: Pumps mit Bleistiftabsätzen, gemusterte, aber sonst hauchfeine Strümpfe, und ein kurzärmeliges, schwarzes, kostbar geschneidertes Kleid aus einem Material wie Kunstseide, das sich eng an ihre Brüste, ihren Oberkörper und Taille und Hüften schmiegte, als wäre es durch eine elektrostatische Aufladung angeklebt. Von der Hüfte aber fiel es erblühend in einem vollen Glockenrock hernieder wie eine umgekehrte Tulpe, die kurz über ihren Knien endete. Drahtdünne silberne Armreifen glitten und klingelten beinahe unhörbar an ihrem linken Handgelenk, als sie ihre Chrysanthemenfrisur lockerte. Sie fanden in kleinen silbernen Ohrgehängen ein Echo. Zwischen ihren Brüsten trug sie eine runde Onyxbrosche, in der in Silber das Wort Cazotte eingelegt war. Für Kontrast sorgte ein winziger Rubin von der Größe eines Fliegenauges — das einzige Fleckchen Farbe in ihrem ganzen Kostüm. Selbst ihr Make-up entsprach dem längst nicht mehr modischen, italienischen ›White Look‹, der ihre natürliche Blässe so sehr übertrieb, daß ihr Gesicht beinahe etwas Bühnenmäßiges hatte — beinahe, aber eben doch nicht ganz.
»Ja«, sagte er und dachte endlich wieder daran zu atmen.
»Ach, du entschließt dich aber schnell. Vielleicht irrst du dich doch?« In raschem, pirouetteartigem Drehschritt lief sie von ihm fort zum Bett, wobei die schwarze Tulpe sich öffnete und unter ihrem Kelch schaumige Spitzen ihre Beine umlodern ließen. Es knisterte trocken. Sie bremste die Drehbewegung so abrupt ab, daß der Rock über ihren Knien knatterte wie Fahnen in einer steifen Brise. Sie sah ihm ins Gesicht und schien völlig menschlich.
»Unmöglich«, sagte Jack und nahm all seine Galanterie zusammen. »Ich finde, du bist einfach wunderbar. Uh — wie darf ich dich nennen?«
»Oh, mein Name könnte zum Beispiel ›Rita‹ sein, wenn du unbedingt einen brauchst.«
Sie hob die Vorderseite ihrer Röcke hoch, und man sah den verstärkten Rand ihrer Strümpfe, der nur wenige Zoll unter der Vase des Beckens ins weiße Fleisch ihrer Oberschenkel schnitt. So setzte sie sich sittsam auf die Bettkante. »Du bist so weit von mir«, sagte sie mit Schmollmund. »Vielleicht glaubst du, daß ich nur außen hübsch bin. Das wäre sehr unfair.«
»Nein, nein, ich bin ganz sicher —«
»Aber wie kannst du jetzt schon sicher sein?« Sie zog die Hacken ihrer Pumps hoch. »Du mußt herkommen und das selbst ausprobieren.«
Die Uhr schlug vier, als sie sich erhob. Sie war nackt und naß, sah aber immer noch irgendwie aus, als trüge sie Stöckelschuhe. Sie begann, ihre Kleider vom Boden aufzuheben. Jack beobachtete benommen dieses graziöse Ballett. Halb war er erschöpft, halb voll Triumph. Er hatte kaum noch genug Kraft in sich, mit der Zehe zu wackeln, aber er hatte sich in dieser Nacht schon so oft selbst überboten, daß er immer noch hoffte. So etwas hatte er noch nie erlebt — noch niemals.
»Mußt du denn schon gehen?« fragte er träge.
»O ja, ich habe noch alles mögliche zu tun.«
»Zu tun? Aber — hast du dich nicht — gut unterhalten?«
»...Gut unterhalten?« Das Mädchen wandte sich ihm zu. Sie war eben dabei, einen Strumpf am Straps ihres Strumpfbandgürtels festzumachen, hielt aber nun inne. »Ich bin deine Dienerin, deine Lamia, deine Sklavin, deine saugende Eva-Frucht, aber du darfst nicht deinen Spott mit mir treiben.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Jack und versuchte, seinen Kopf von dem schweißnassen, zusammengekneteten Kissen zu heben.
»Dann schweig.« Sie fuhr fort, sich anzukleiden.
»Aber ... du schienst . . .«
Sie drehte sich ihm wieder zu: »Ich habe dir Lust geschenkt. Beglückwünsche dich dazu. Das ist genug. Du weißt sehr gut, was ich bin. Ich selbst habe an nichts Lust oder Freude. Es ist verboten. Sei dankbar, und ich werde wieder zu dir kommen. Verspottest du mich aber, so schicke ich dir ein altes Weib mit dem Schweif eines Esels.«
»Ich wollte dich nicht kränken«, sagte er mit einem Unterton von Trotz.
»Dann gib acht, daß du’s nicht tust. Du hattest deinen Spaß mit mir, das genügt. Deine Männlichkeit mußt du an sterblichem Fleisch erproben. Deine Potenz auf die Probe zu stellen, bin ich jetzt unterwegs. Auf der anderen Seite der Welt wird es jetzt bald Nacht, und ich muß gehen, deinen Samen zu säen, ehe er in meinen Feuern verdorrt — wenn er überhaupt je Leben hatte.«
»Wie meinst du das?« flüsterte er heiser.
»Hab’ keine Angst, morgen bin ich wieder bei dir. Aber in der nächsten Spanne der Dunkelheit muß ich die Gestalt wechseln.« Das Kleid glitt nun an ihrem unvorstellbar biegsamen Leib herab. »Jetzt verwandle ich mich in einen Inkubus. Auf den wartet eine Frau, die von ihrem Gatten durch den doppelten Weg abgelenkt ist, schon voll Sehnsucht. Gelange ich rechtzeitig zu ihr, dann zeugst du ihr ein Kind — einer Frau, die du niemals auch nur sehen wirst. Ist das nicht ein Wunder? Und es wird wohl ein fürchterliches Kind werden, das verspreche ich dir!«
Sie lächelte ihn an. Mit Übelkeit und einem Gefühl der Schmach nahm er wahr, daß sich nun hinter ihren Lidern keine Augen mehr befanden — nur leer flackernde Lichter, wie Funken, die in einem Kamin aufsteigen. Sie war nun so vollständig angezogen wie am Anfang. Sie machte vor ihm ernst und feierlich einen Knix.
»Wart’ auf mich . . . außer, natürlich, wenn du nicht willst, daß ich morgen abend wieder zu dir komme . . .?«
Er versuchte, nicht zu antworten, aber die Worte entflohen seinem Mund, als wären sie giftiges Gas.
»Ja . . . o Gott. . .«
Sie bedeckte mit den hohlen Händen ihr verborgenes Geschlecht in einer Geste obszöner Tugendsamkeit — und barst ins Nichts wie ein explodierender Ballon. Das Morgengrauen fiel in seiner ganzen Schwere auf Jack, wie die Berge auf den heiligen Johannes.
12
Dr. Stockhausen starb am St.-Valentins-Tag, nachdem Ärzte aus der ganzen Welt — sogar aus der Sowjetunion — drei Tage lang vergeblich versucht hatten, ihn zu retten. Aber er hatte einen so ausgiebigen Trunk unverdünnter Jodtinktur getan, daß er trotz allem den inneren Verätzungen erlag. Operationen und Spitalpflege waren natürlich gratis. Aber er starb, ohne ein Testament zu hinterlassen, und es schien, als würde es einfach endlos dauern, bis seine kleine Hinterlassenschaft — Tantiemen von einem wissenschaftlichen Werk und was noch von einem vor zehn Jahren verliehenen Nobelpreis übrig war — verteilt war. Dies vor allem in Anbetracht der Notiz, die Stockhausen hinterlassen hatte, und aus der keine Gruppe von Experten — weder Wissenschaftler noch Juristen — im Laufe der nächsten paar Generationen hoffen durfte, den mathematischen Kern vom Todesgestammel eines Wahnsinnigen zu trennen.
Für seine Enkel und für die geschiedene Tochter wurde Geld gesammelt, um ihnen über das Schlimmste wegzuhelfen. Das letzte Buch aber, das er geschrieben hatte, erwies sich im Inhalt der Abschiedsnotiz so ähnlich, daß die Berater seines Verlegers niemand finden konnten, dem man vernünftigerweise die Herausgabe und posthume Mitautorschaft hätte anbieten können. Es war die Rede davon, daß man sein Hirn dem Museum der Deutschen Akademie in München überlassen würde — aber auch das wieder erst nach Abwicklung der Hinterlassenschaft. Innerhalb von drei Tagen nach der Beerdigung aber konnte Ware berichten, daß sowohl das Hirn als auch Stockhausens letztes Manuskript verschwunden waren.