Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.
Ich hatte ein Wesen wie dieses schon einmal gesehen, und es war nicht einmal lange her.
Der Schatten vor mir war der Schatten eines GROSSEN ALTEN! Und es war gleichzeitig mein Schatten, der Umriß meines Körpers, der von den zuckenden Flammen im Kamin auf die Wand geworfen wurde! Das Ding, das ich getötet zu haben glaubte, dachte ich entsetzt. Das Monstrum, dem ich meinen Degen durch den Leib gerammt und dessen Tod ich mit eigenen Augen gesehen zu haben glaubte.
Es war nicht tot! Es lebte.
Es existierte weiter, auf widernatürliche, unheimliche Weise, lebte weiter und verfolgte weiter seine finsteren Pläne - in mir! Das waren die Alpträume gewesen, die mich gequält hatten, die furchtbaren Visionen, die Bilder, die ich mir nicht erklären konnte. Die Bestie war tot, aber etwas von ihr war in meinen Körper gedrungen, als sie mich verletzt hatte, ein tödlicher, mörderischer Keim, der tief in mir heranwuchs und stärker wurde. Und Howard hatte es gewußt.
Ich schrie auf, taumelte wie unter einem Hieb zurück, prallte gegen den Bettpfosten und verlor das Gleichgewicht. Der Schatten an der Wand vollzog die Bewegungen gehorsam mit, aber er tat noch mehr, kippte nicht nur zur Seite und zu Boden, sondern bewegte sich gleichzeitig auf mich zu, peitschende Tentakel in meine Richtung streckend und mit rauchigen Schattenarmen nach meinen Beinen greifend. Das Zimmer war plötzlich von einem bestialischen Gestank erfüllt, Leichengeruch, aber auch noch etwas anderes, Fremdes und unbeschreiblich Ekelhaftes. Ich schrie, kreischte wie ein Wahnsinniger und kroch rücklings über den Boden davon, aber der Scharten folgte mir wie eine lautlose Woge aus Finsternis, und seine zuckenden Arme kamen näher, unbarmherzig näher. Panik kroch in mir hoch. Ich begann mit den Beinen zu strampeln und nach dem Schatten zu treten, versuchte mich herumzuwerfen und kroch weiter zurück. Aber der Schatten folgte mir, ganz egal, was ich tat. Es war mein Schatten. Und niemand kann seinem eigenen Schatten entkommen.
Die peitschenden Schlangenarme kamen näher, bewegten sich lautlos und gleitend über den Boden auf meine Beine zu, verharrten einen Moment, als würden sie überlegen, und krochen dann weiter. Ich schrie.
Jemand begann gegen die Tür zu schlagen. »Was ist denn los da drinnen?« polterte eine Stimme. »Machen Sie auf! Dieser Lärm geht zu weit!«
Ich schrie wieder, warf mich zur Seite und rollte bis dicht vor die Tür, aber wieder vollzog der Schatten die Bewegung gehorsam mit. Er kam nicht näher, aber die schleichenden Tentakelarme verharrten eine Handbreit neben meinem Körper, als wollten sie mich verspotten.
Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen. Das zorngerötete Fuchsgesicht des Portiers erschien unter der Öffnung.
Und der Schatten verschwand.
Plötzlich, von einem Lidzucken auf das andere, war der Schatten neben mir wieder mein eigener Schatten, der Schatten eines ganz normalen Menschen, und auch der Pesthauch der Bestie war fort.
Der Portier riß die Tür vollends auf, trat herausfordernd auf mich zu und funkelte mich mit einer Mischung aus gerechtem Zorn und einer ganz kleinen Spur von Angst an. »Was zum Teufel geht hier vor?« fragte er. »Was bilden Sie sich ein, hier herumzuschreien? Sie brüllen ja, daß man Sie bis zur Küste hören kann!«
Ich wollte antworten, aber ich konnte nicht. Mein Herz jagte, und mein Atem ging so schnell, daß ich nur ein unartikuliertes Keuchen hervorbekam. Mühsam, mit zitternden Händen, stemmte ich mich hoch, blieb einen Moment auf Händen und Knien hocken und stand dann ganz auf. Ich taumelte. Für einen Moment begann sich das Zimmer wie wild vor meinen Augen zu drehen, dann bekam ich den Bettpfosten zu fassen und klammerte mich mit dem bißchen Kraft, das mir noch verblieben war, fest.
»Nun?« fragte der Portier scharf. Seine Stimme klang erregt, aber ich registrierte auch die schwache Spur von Furcht, die darin mitschwang. Wahrscheinlich hielt er mich für verrückt.
»Es war ... nichts«, sagte ich mühsam. »Ich ... ich hatte ...«
»Wieder einen von diesen Anfällen, wie?« fragte das Fuchsgesicht. Ich nickte. Die Erklärung war besser als alles, was mir im Augenblick eingefallen wäre.
»Und Ihr Onkel läßt Sie einfach so allein, wie?« fuhr er, durch mein Schweigen offensichtlich mutiger geworden, fort. Ärgerlich trat er auf mich zu, stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte mich an. »Junger Mann, wenn Sie krank sind, dann gehen Sie zu einem Arzt. Dieses Hotel ist kein Krankenhaus, und das habe ich Ihrem Onkel auch schon gesagt.«
»Es ... es wird nicht wieder ... nicht wieder vorkommen«, murmelte ich. Mir war noch immer schwindelig. Meine Glieder fühlten sich seltsam leicht und kraftlos an. Was immer gerade geschehen war, es hatte mich total erschöpft.
»Sie können sich sogar darauf verlassen, daß es nicht wieder vorkommt«, knurrte das Fuchsgesicht. Wie viele Menschen, die im Grunde ihres Herzens feige sind, neigte er dazu, den Bogen zu überspannen, wenn er einmal auf Widerstand stieß, den er brechen zu können glaubte. »Sie werden nämlich ausziehen, und zwar auf der Stelle. Wir haben noch andere Gäste, und dieses Haus ist...«
»Kein Irrenhaus?« Ich sah auf und blickte ihm einen Moment lang in die Augen. Der zornige Ausdruck in seinem Blick zerbrach.
»Das ... das habe ich nicht gemeint«, sagte er hastig. »Ich meine nur ...«
»Schon gut.« Ich winkte ab, ließ vorsichtig den Bettpfosten los, an dem ich Halt gesucht hatte, und ging schwankend um das Bett herum. »Sie haben ja recht«, murmelte ich. »Ich gehe. Auf der Stelle.«
Ich hatte kaum die Kraft, mich nach meinen Kleidern zu bücken, und als ich in die Hose zu schlüpfen versuchte, wurde mir schon wieder schwindelig. Aber diesmal kämpfte ich das Gefühl mit aller Macht nieder. Ich mußte aus diesem Zimmer heraus. Sofort.
»So war das auch nicht gemeint«, sagte der Portier kleinlaut. »Sie können ruhig bleiben, bis ...«
»Ich gehe«, beharrte ich. »Bitte warten Sie, bis ich mich angezogen habe. Ich ... ich werde Ihnen keine weiteren Schwierigkeiten bereiten.« Mit zitternden Fingern stopfte ich mein Nachthemd unter den Hosenbund, griff nach der Weste und streifte sie ungeschickt über. Mein Blick fiel immer wieder auf die gegenüberliegende Wand, Aber der Schatten daran war ein normaler, menschlicher Schatten.
»Vielleicht sollte ich einen Arzt rufen«, sagte der Portier. Plötzlich schien er es furchtbar eilig zu haben, das Zimmer zu verlassen. Ich konnte es ihm nicht einmal verdenken. Wer war schon gerne in der Gesellschaft eines Verrückten?
»Bitte bleiben Sie«, sagte ich. »Ich bin gleich soweit.«
»Aber ich habe noch zu tun, und Sie können wirklich ...«
»Verdammt noch mal, Sie sollen hierbleiben!« brüllte ich. Das Fuchsgesicht prallte erschrocken zurück und schluckte ein paarmal, blieb aber gehorsam stehen. Sein Blick wanderte durch den Raum, als hielte er nach einer Waffe Ausschau, mit der er sich im Notfall wehren konnte, sollte ich vollends tobsüchtig werden.
So rasch ich konnte - sehr rasch war es nicht, denn meine Hände zitterten noch immer so stark, daß ich kaum die Schnürbänder an meinen Schuhen zubekam - zog ich mich zu Ende an, nahm Hut und Stock vom Tisch und wandte mich zur Tür. Der Blick des Portiers saugte sich für einen Moment an meinem Gesicht fest. Dem Ausdruck in seinen Augen nach zu schließen, mußte ich fürchterlich aussehen. Lautlos trat er zur Seite, um mir Platz zu machen. Ich ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen und spähte auf den Flur hinaus. Der Gang war lang und dunkel, und es gab nur ein einziges Fenster, dessen Licht nicht bis zur Treppe fiel. Keine Schatten, dachte ich. Gut. Solange ich nicht direkt ins Sonnenlicht, vor ein Feuer oder eine Lampe trat, war ich in Sicherheit.