Vielleicht.
»Sie ... Sie wollen wirklich gehen?« fragte der Portier hinter mir.
Ich drehte mich nicht um, sondern nickte nur. »Ja. Wenn mein ... Onkel zurückkommt, dann sagen Sie ihm, daß ich ihn am Hafen erwarte. Heute abend, nach Sonnenuntergang.«
Wenn ich bis dahin noch lebte, fügte ich in Gedanken hinzu. Und wenn ich noch ich war.
Der Weg war auf den letzten anderthalb Meilen immer schlechter geworden, und Bensen hatte immer öfter die Peitsche zu Hilfe nehmen müssen, um die beiden Pferde überhaupt zum Weitergehen zu bewegen. Aber jetzt würde ihm nicht einmal mehr die Peitsche helfen. Das Fuhrwerk saß fest, bis fast an die Achsen in Schlamm und Morast eingesunken. Er würde ein halbes Dutzend Ochsen brauchen, um den Wagen wieder flott zu bekommen.
Bensen ließ mit einem zornigen Laut die Zügel sinken, richtete sich auf dem schmalen Bock auf und trat nach hinten, auf die Ladefläche des Wagens. Norris lag zusammengekrümmt zwischen leeren Säcken und Bastkörben, die nach Fisch stanken. Er stöhnte leise, und im Laufe der letzten halben Stunde hatte er sich mindestens ein halbes Dutzend Mal übergeben. Der Wagen stank durchdringend nach Erbrochenem, und Norris' Gesicht lag in einer Pfütze hellgrauer, übelriechenden Flüssigkeit. Bensen drängte seinen Ekel zurück und ging vorsichtig neben Norris in die Knie. Den Wagen hatte er sich ohnehin »ausgeliehen« ohne seinen Besitzer vorher um Erlaubnis zu fragen, und Norris ...
Nun, er schien doch ein bißchen mehr als nur zuviel Salzwasser geschluckt zu haben, dachte Bensen düster. Norris hatte aufgehört, zu wimmern und um Hilfe zu flehen, aber er war noch bei Bewußtsein. Seine Augen standen einen Spaltbreit offen, und seine Hände öffneten und schlossen sich unentwegt; die Fingernägel kratzten dabei über das morsche Holz des Wagenbodens und verursachten scharrende Laute, die Bensen einen eisigen Schauer über den Rücken jagten. »Wie geht es dir, Junge?« fragte er.
Norris versuchte den Kopf zu heben, aber er hatte nicht mehr genug Kraft dazu. »Ich habe ... Schmerzen. Wo ... bringst du mich ... hin?«
Bensen seufzte. »Ich passe schon auf dich auf, Kleiner«, sagte er. »Keine Angst. Es wird schon wieder.«
»Nichts ... wird wieder«, stöhnte Norris. »Du ... du bringst mich nicht... nicht zum Arzt.«
»Nein«, sagte Bensen ruhig. »Jedenfalls nicht heute. Du wirst es schon durchhalten.«
Norris stöhnte, drehte nun doch den Kopf und starrte ihn aus roten, entzündeten Augen an. Bensen sah, daß das Weiße in seinen Augen fast ganz verschwunden war. Seine Pupillen waren unnatürlich vergrößert, und seine Gesichtshaut war weiß mit einem Stich ins Gelbliche und da und dort gerissen wie altes, trockenes Pergament.
»Ich ... ich sterbe, Lennard«, flüsterte er. »Und du ... du läßt mich krepieren wie einen Hund, du ... du Schwein.«
Bensen lachte leise. »Du redest Unsinn, Kleiner«, sagte er. »Ich bringe dich zu einem Arzt. Morgen. Sowie ich mit Phillips fertig bin. So lange mußt du schon durchhalten.«
»Du ... du miese Sau«, keuchte Norris. »Du läßt mich verrecken, genau wie du Mahoney hast sterben lassen.«
»Das tue ich nicht«, widersprach Bensen gereizt. »Aber ich lasse mir nicht die größte Chance meines Lebens entgehen, nur weil du dir vor Angst in die Hosen scheißt, Kleiner. Wir machen halbe-halbe, genau wie ausgemacht, auch wenn du nicht dabei bist. Aber du wirst bis morgen durchhalten müssen.« Er lachte rauh. »Sieh es von der Seite: Ich habe die Arbeit, und du kassierst.«
»Du ...«
»Ich kenne eine Hütte hier in der Gegend«, fuhr Bensen unbeeindruckt fort. »Um diese Jahreszeit kommt da nie einer hin. Ich bringe dich dorthin, und morgen abend komme ich wieder - mit dem Geld. Wenn es dir dann noch nicht besser geht, hole ich einen Arzt.«
»Ich will ... dein dreckiges Geld nicht mehr«, stöhnte Norris. »Mach mit Phillips ab, was du willst, aber ...« Er brach ab, stöhnte, wand sich wie unter einem Krampf und preßte die Hände gegen den Leib. Ein dunkler Fleck bildete sich auf seinem Hemd, und plötzlich waren seine Hände feucht. Bensen verzog angeekelt das Gesicht, als er die graue Flüssigkeit sah, die aus seinen Hemdsärmeln lief und zu Boden tropfte. Ein süßlicher, durchdringender Geruch stieg ihm in die Nase.
Zögernd beugte er sich vor, löste Norris' verkrampfte Hände und drehte ihn auf den Rücken. »Verflucht, was ist los mit dir?« flüsterte er. Norris antwortete nicht, aber der dunkle Fleck auf seinem Hemd wurde größer, dann erschienen weitere Flecke auf seinen Hosenbeinen und über seiner linken Schulter. Bensen richtete sich angewidert auf, streckte aber kurz darauf wieder die Hand aus und berührte Norris' Leib. Sein Körper fühlte sich seltsam an: wie weicher Schwamm, gar nicht mehr wie der eines Menschen.
Bensen drängte das Ekelgefühl, das neu und stärker in ihm aufstieg und ihm die Kehle zuschnürte, mit aller Macht zurück, zog sein Taschenmesser aus der Jacke und schnitt Norris' Hemd auf.
Die Haut, die darunter zum Vorschein kam, war grau. Und es war auch keine menschliche Haut mehr, sondern eine halb aufgelöste, wässerige Masse, wie verfaulter Tang. Sie stank bestialisch.
Bensen erstarrte. Plötzlich sah er ein Bild vor sich: seinen eigenen Fuß, naß und glitzernd von Salzwasser, und einen dünnen, grauen Strang, der sich um sein Gelenk geringelt hatte ...
Er vertrieb das Bild, rückte instinktiv ein Stück weiter von Norris weg und sah entsetzt auf seinen Körper herab. Die dunklen Flecke auf seinem Leib wurden immer zahlreicher. Seine Atemzüge klangen röchelnd.
»Lennard«, flehte Norris. »Hilf ... mir. Ich ... halte es nicht mehr aus. Bring mich ... zum Arzt.«
Bensen schwieg fast eine Minute. Norris' Kleidung hatte sich jetzt fast vollständig dunkel gefärbt. Der Gestank war kaum mehr auszuhalten. Er mußte sein Hemd nicht weiter aufschneiden, um zu wissen, wie es darunter aussah.
»Es tut mir leid, Kleiner«, sagte er. »Aber das kann ich nicht.«
Norris keuchte. »Du ...«
»Du würdest alles verraten, nicht wahr?« fuhr Bensen fort. Seine Hand krampfte sich fester um das Messer. »Sie würden dich fragen, woher du das hast, und du würdest alles erzählen. Die ganze Geschichte.«
»Lennard!« flehte Norris. »Ich ... ich sterbe! Bitte hilf mir.«
»Ich würde es ja gerne«, erwiderte Bensen leise. »Aber ich kann nicht. Du würdest Phillips auffliegen lassen, und ich würde nicht an mein Geld kommen und den Rest meines Lebens in diesem Kaff verbringen. Ich kann das nicht. Ich will weg hier, und ich lasse nicht zu, daß mich jemand daran hindert. Das siehst du doch ein, oder?«
Damit beugte er sich vor und hob das Messer ...
Durness war nicht sehr belebt zu dieser Stunde. Es war nur ein knappes halbes Dutzend Passanten, die sich mehr oder weniger zielstrebig auf den Bürgersteigen rechts und links der Hauptstraße bewegten, dazu ein einzelnes, von einem müden Gaul gezogenes Fuhrwerk. Vielleicht lag es an der noch frühen Stunde - Durness sieht auf der Landkarte respektabel aus, aber in Wahrheit ist es wenig mehr als ein Kaff, das zufällig einen kleinen Hafen besitzt und aus mir unerfindlichen Gründen eine bescheidene Industrie angelockt hat, die den Menschen in weitem Umkreis Arbeit gab. Sehr wenige seiner Einwohner mochten die Muße haben, tagsüber spazierenzugehen, und eine Strandpromenade wie in den meisten anderen (und bekannteren) Seehäfen Englands gab es erst gar nicht. Vielleicht lag es auch an der herbstlichen Kälte, die an diesem Tage besonders grimmig zu sein schien und die Leute in die Häuser und vor ihre warmen Öfen getrieben hatte - ich jedenfalls begann den eisigen Biß des Windes schon nach wenigen Augenblicken unangenehm zu spüren. Die Luft roch nach Salzwasser und Tang, und der Wind blies vom Meer aus; eine beständige, nicht sehr steife Brise, die durch meine dünne Kleidung drang und mich frösteln ließ. Ich war für die Witterung denkbar schlecht gekleidet. Oben im Zimmer hatte ich einfach übergestreift, was ich zuerst gefunden hatte, und das war eben ein vielleicht modischer, aber ganz und gar nicht wärmender Gehrock gewesen, der mir kaum Schutz vor der Kälte gewährte. Das Ergebnis war, daß ich nach kaum fünf Minuten bereits vor Kälte mit den Zähnen klapperte und erbärmlich fror.