Ich fühlte mich noch immer wie betäubt. Ich war aus dem Hotel geflohen, und mir wurde erst jetzt - und auch erst jetzt nur ganz langsam - klar, daß ich nicht die geringste Ahnung hatte, wohin. Ich wußte, daß Howard ein Schiff im Hafen liegen hatte, und wenn der Portier meine Nachricht ausrichten würde, würde ich ihn dort treffen, sobald die Sonne untergegangen war.
Aber bis dahin waren noch gute fünf Stunden Zeit... Ich blieb stehen, trat unbewußt einen Schritt näher an die Hauswand heran und sah mich um. Der Himmel war bedeckt, wie oft zu dieser Jahreszeit und es gab keine nennenswerten Schatten, Und selbst wenn die Sonne weiterwanderte, war ich auf dieser Seite der Straße in Sicherheit, zumindest für die nächsten Stunden. Aber ich konnte unmöglich bis Sonnenuntergang hierbleiben, und sei es nur wegen der Kälte.
Es war ein Fehler gewesen, aus dem Hotel zu fliehen. Ich hatte in Panik gehandelt, und wie so oft, wenn man nicht mehr auf sein klares Denken, sondern nur noch auf die Angst hört, hatte ich das Falsche getan. Ich hätte das Feuer löschen, die Fenster verhängen und in aller Ruhe auf Howard warten sollen, statt kopflos aus dem Hotel zu stürzen. Einen Moment überlegte ich, ob ich zum Hotel zurückkehren sollte, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Ich würde einen Ort finden, an dem ich mich verbergen konnte, bis die Sonne unterging, und Howard würde eine Lösung finden. Es galt nur, die Zeit bis dahin zu überstehen.
Mein Blick wanderte die Straße hinab. Es gab ein paar kleine Ladengeschäfte, zwei, drei Lokale und Restaurants und eine Reihe von Wohnhäusern, aber nichts davon erschien mir passend als Versteck. Ich war fremd hier und konnte schlecht irgendwo klopfen und fragen, ob ich mich bis nach Dunkelwerden im Keller verkriechen konnte. Und auch die Lokale erschienen mir nicht sicher genug; ganz egal, welcher Art - ob nun ein teures Restaurant oder eine Hafenkneipe - es gab dort Licht, und wo es Licht gab, da waren auch Schatten. Die Situation war beinahe absurd - wo versteckte man sich vor seinem eigenen Schatten?
Ich weiß nicht, ob es Zufall war - in letzter Zeit gelangte ich immer mehr zu der Überzeugung, daß es so etwas wie Zufall nicht gab - aber der einzige Ort, der mir im Augenblick auch nur einigermaßen sicher schien, war die Kirche.
Es war eine kleine Kirche, selbst für einen Ort wie Durness, aber sie war zu dieser Zeit des Tages wahrscheinlich so gut wie leer, und sie war dunkel und schattig und würde mir Schutz gewähren. Es war nicht einmal sehr weit bis dorthin - vielleicht hundert Schritte die Straße hinunter und auf der anderen Seite. Ich ging los.
Der Wind wurde kälter, als ich mich die Straße hinunter bewegte, und ein rascher Blick auf den Himmel zeigte mir, daß die Gewitterfront näher gekommen war. Die schwarzen Wolkenberge waren noch immer weit von Durness entfernt, aber sie waren doch sichtbar näher herangekommen, und auch über der Stadt ballten sich bereits braungraue, brodelnde Wolken zusammen. Das dumpfe Grollen des Donners war lauter als vorher. Fröstelnd zog ich den Kopf zwischen die Schultern, stemmte mich gegen den Wind und ging schneller.
Als ich die Straße halb überquert hatte, riß die Wolkendecke auf.
Es war kein Zufall. Das Wimmern des Windes steigerte sich für Sekunden zu einem wütenden Kreischen, einem Laut wie einem zornigen Schrei. Der Wind traf mich wie eine eisige Faust im Gesicht und ließ mich taumeln. Gleichzeitig riß die graue Decke über der Stadt wie in einer gewaltigen, lautlosen Explosion auseinander, und auf dem nassen Kopfsteinpflaster vor mir erschien der Schatten der Bestie.
Der Schatten war größer als beim ersten Mal. Und er reagierte viel schneller und zielstrebiger als oben im Hotel. Das schwarze Nest aus Schattenschlangen breitete sich wie eine aufblühende Blume vor mir aus, und Dutzende von Tentakeln ringelten sich peitschend und lautlos in meine Richtung.
Diesmal kam meine Reaktion fast zu spät. Ich hatte gewußt, was passieren würde, hatte es zumindest befürchtet, und trotzdem lähmte mich der Anblick für Sekunden. Erst als ein halbes Dutzend der Schattenarme auf meine Beine zuschossen, erwachte ich aus meiner Erstarrung und rannte los.
Die Straße war nur wenig breiter als zehn Yards, aber der Weg hinüber wurde zum längsten meines Lebens. Der Schatten huschte wie ein gewaltiger mißgestalteter, dunkler Doppelgänger vor mir über den Straßenbelag, hüpfte über die niedrige Bordsteinkante und kippte in einer grotesken Bewegung zur Seite und nach oben, als ich auf die Kirchentür zuwankte. Die wirbelnden Arme tasteten plötzlich nicht mehr nach meinen Beinen, sondern peitschten direkt vor mir über das rissige braune Holz. Ich schrie vor Schrecken, zerrte verzweifelt an einem der schweren Türflügel und duckte mich, als einer der Tentakelarme nach mir schlug. Es war absurd: Er war nichts als ein Schatten, nichts Körperliches, Festes, aber ich spürte den scharfen Luftzug und die Woge von Pestgestank, die ihm folgte.
Mit einem verzweifelten Satz warf ich mich nach vorne, drückte die Tür mit der Schulter auf und taumelte hindurch.
Der Scharten verschwand im gleichen Moment, in dem ich das Kirchenschiff betrat, aber ich stolperte noch ein paar Schritte weiter, tiefer hinein in die schützende Dunkelheit und die Schatten, die dieses furchtbare Ding in mir wenigstens für Augenblicke vertrieben. Erst, als ich weit von der offenstehenden Tür entfernt war, wagte ich es, stehenzubleiben.
Die Erschöpfung hüllte mich ein wie eine betäubende Woge. Die wenigen Schritte hatten meinen geschwächten Körper bis an die Grenzen belastet; mein Herz raste, und meine Beine fühlten sich an, als wäre ich Meile um Meile gerannt, statt weniger Schritte. Ich wankte, hielt mich an einer der einfachen hölzernen Bänke fest und sah mich schweratmend um.
Die Kirche sah im Inneren weit größer aus als von außen. Das spitze Dach erhob sich fünfundzwanzig Yards über den Boden, und in den unverputzten Wänden aus einfachen roten Ziegeln, die nur hier und da durch ein Heiligenbild oder eine hölzerne Statue aufgelockert wurden, waren nur wenige, kleine Fenster, so daß es hier drinnen selbst bei hellem Sonnenschein wahrscheinlich immer dunkel war. Wenigstens würde mich der Schatten hier drinnen nicht einholen können.
Langsam drehte ich mich um. Ich war nicht allein, wie ich gehofft hatte. Am anderen Ende des Kirchenschiffes befand sich ein einfacher, niedriger Altar, und davor, halb kniend, als hätte ich ihn im Gebet gestört, saß ein Mann und sah zu mir herüber. Einen Moment lang hielt ich seinem Blick stand, dann drehte ich mich rasch um, ging ein paar Schritte und ließ mich auf eine der unbequemen Bänke sinken. Draußen kam das Gewitter näher, und die hallende Akustik der Kirche ließ die Donnerschläge lauter und drohender klingen als sie waren. Ich stützte die Arme auf die Rückenlehne der Bank vor mir, blieb einen Moment mit geschlossenen Augen sitzen und versuchte, den Sturm von Gefühlen und Gedanken in meinem Inneren niederzukämpfen. Dann griff ich - eigentlich, ohne überhaupt zu wissen, warum - nach einem der zerlesenen Gebetsbücher, die überall auf den Bänken ausgelegt worden waren, schlug es wahllos auf und begann darin zu blättern. Nach einer Weile stand der Mann am Altar auf und ging zum Ausgang. Ich beachtete ihn nicht, sondern tat weiter so, als lese ich.