»Mister Craven?«
Ich sah auf. Der Mann hatte die Kirche nicht verlassen, sondern war näher gekommen und neben mir stehengeblieben, so leise, daß ich es nicht einmal bemerkt hatte. Sein Gesicht war in der unzureichenden Beleuchtung nicht zu erkennen, aber ich konnte sehen, daß er sehr groß und kräftig gebaut war, dazu etwa so alt wie ich, vielleicht etwas jünger. »Sie ... kennen mich?« fragte ich.
Er nickte. »Warum sind Sie hierher gekommen, Mister Craven?« fragte er leise. »Weil es eine Kirche ist?« Er lachte. In dem großen, stillen Raum bekam das Geräusch einen vollkommen neuen Klang. »Glauben Sie mir, es wird Ihnen nichts nutzen, Mister Craven. Die Mächte, vor denen Sie fliehen, lassen sich nicht durch Kirchenmauern oder ein Kreuz zurückhalten.«
Ich starrte ihn an. Ich war sicher, den Mann nie zuvor in meinem Leben gesehen zu haben. Dafür schien er mich um so besser zu kennen. Trotzdem schüttelte ich beinahe instinktiv den Kopf. »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht«, sagte ich, so ruhig ich konnte. »Was meinen Sie, Mister ...«
»Mahoney«, antwortete der Fremde, »Floyd Mahoney. Und glauben Sie mir - Sie sind hier nicht sicher. Diese Kirche und ihre Symbole schützen Sie vielleicht vor Schwarzer Magie, vielleicht auch vor dem Teufel, falls es so etwas gibt. Aber die Mächte, gegen die Sie kämpfen, sind weder das eine noch das andere.« Er lächelte, nahm unaufgefordert neben mir Platz und machte eine Bewegung, die die gesamte Kirche einschloß. »Das alles hier, Robert, ist Glauben. Das Stein gewordene Wort Gottes, wie ein kluger Mann einmal gesagt hat. Die, gegen die Sie und Ihre Freunde kämpfen, haben nichts mit Gott oder dem Teufel zu schaffen, oder mit irgendwelchen Dämonen. Es sind Wesen wie wir, lebende Wesen, Robert. Aber sie stammen aus einer Zeit, die seit zwei Milliarden Jahren untergegangen ist, und ihre Hilfsmittel sind so fremdartig, daß sie uns vielleicht wie Magie vorkommen.«
»Ich ... ich verstehe nicht, was -«
»Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind, Robert«, unterbrach mich Mahoney. Seine Stimme klang zornig, aber nicht sehr. »Ich bin auf Ihrer Seite. Aber ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich nicht helfen lassen.«
Sekundenlang starrte ich ihn unschlüssig an. Meine Finger spielten nervös mit den dünnen Pergamentseiten des Gebetbuches und zerknitterten sie, aber das merkte ich in diesem Augenblick nicht einmal. Ich konnte Mahoneys Gesicht jetzt deutlicher erkennen. Es paßte zu seinem Äußeren - breitflächig, nicht übermäßig intelligent, aber offen und von einer schwer in Worte zu fassenden Gutmütigkeit. »Sie ... Sie wissen ...«
»Von den GROSSEN ALTEN und Ihnen, von Mister Lovecraft und Ihrem Vater?« half Mahoney. Er lächelte. »Ja, das und eine Menge mehr. Aber jetzt ist nicht die Zeit, Ihnen alles zu erklären. Das ist eine lange Geschichte, wissen Sie?« Er lächelte noch ein bißchen breiter. »Aber ich bin Ihr Freund, Robert. Ich kann Ihnen helfen, hier herauszukommen.« Er wies zur Tür. »Es wäre mir ein leichtes gewesen, Sie dort draußen aufzuhalten. Ein paar Sekunden hätten genügt.«
Irgend etwas an seinen Worten irritierte mich - vielleicht die Tatsache, daß dieser sonderbare Mister Mahoney der Meinung zu sein schien, daß ihn allein die Tatsache, daß er mir nicht geschadet hatte, als er es konnte, schon zu meinem Freund machte ...
Trotzdem stand ich nach kurzem Zögern auf, legte das Gebetbuch auf die Bank zurück und sah ihn fragend an. »Wie?«
»Es gibt einen Geheimgang«, erwiderte er und stampfte mit dem Fuß auf. »Direkt unter unseren Füßen. Er beginnt in der Sakristei und endet unmittelbar am Hafen. Er stammt noch aus der Zeit, als diese Küste unter den Wikingerüberfällen zu leiden hatte, wissen Sie? Die Leute flüchteten sich damals hierher, so wie Sie jetzt, und so wie Ihnen hat es ihnen nichts genutzt. Die Wikinger hatten auch keinen Respekt vor dem Kreuz.« Er lachte, drehte sich um und wollte losgehen, aber ich hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.
»Wer sind Sie?« fragte ich. »Was sind Sie, Mahoney?«
»Floyd«, verbesserte er mich. »Meine Freunde nennen mich Floyd.«
»Meinetwegen«, antwortete ich grob. »Aber das beantwortet meine Frage nicht.«
Floyd seufzte. Auf seinem Gesicht erschien ein fast trauriger Ausdruck. Behutsam löste er meine Hand von seinem Arm, sah zurück zur Tür und dann zu einem der kleinen, bleiverglasten Fenster hinauf, ehe er sich wieder zu mir umwandte.
»Warum vertrauen Sie mir nicht einfach?« fragte er leise, gab mir aber keine Gelegenheit, um zu antworten, sondern fuhr fast melancholisch fort. »Vielleicht sind Sie ein paarmal zu oft enttäuscht worden, wie? Ich glaube, ich kann Sie fast verstehen, Robert. Aber ich bin Ihr Freund. Ich hasse die GROSSEN ALTEN ebensosehr wie Sie.«
»Sie?« fragte ich, noch immer mißtrauisch. »Sie sind kaum jung genug, um ...«
»Ich bin dreiundzwanzig, Robert«, unterbrach er mich. »Nicht viel jünger als Sie.«
»Das ist etwas anderes. Ich bin -«
»Etwas Besonderes, ich weiß«, unterbrach mich Floyd spöttisch. »Das glaubt jeder, der mit diesen Bestien zu tun bekommt. Aber vielleicht haben Sie nicht einmal Unrecht. Sie sind der erste Mensch, den ich kennenlerne, der eine Begegnung mit einem dieser Ungeheuer überlebt hat.« Er hob die Hand und deutete auf die weiße Haarsträhne über meinem rechten Auge. »Das da stammt doch von einem, oder?«
Ich nickte impulsiv. »Gibt es irgend etwas, das ... das Sie nicht wissen?« fragte ich.
»Eine Menge«, antwortete Mahoney ernst. »Aber ich weiß, was mit Ihnen los ist, Robert, und ich glaube, ich weiß auch, wie ich Ihnen helfen kann.«
»Wie?«
»Nicht hier«, antwortete Mahoney ruhig. »Wir müssen hier weg. Am besten gehen wir nach unten, in den Gang. Ich habe keine Ahnung, ob er noch auf voller Länge passierbar ist, aber es gibt dort unten kein Licht. Bis Sonnenuntergang sind wir in Sicherheit.«
»Und dann?« fragte ich.
»Dann?« Mahoney lächelte. »Dann fahren wir auf das Meer hinaus und holen die Bücherkiste Ihres Vaters. Ich hoffe, Sie können schwimmen.«
Das Pferd war während der letzten halben Stunde immer unruhiger geworden. Die Gewitterfront war näher gekommen, und das dunkle Rumpeln und Grollen des Donners erklang jetzt beinahe ununterbrochen, und obwohl die Regenfront noch immer Meilen entfernt war, war die Luft bereits von jenem eigentümlichen Gefühl der Spannung erfüllt, das einem schweren Unwetter vorausgeht und das Tiere mit ihren empfindlichen Sinnen weitaus eher registrieren als Menschen.
Aber das war nicht der einzige Grund für die Nervosität des Tieres. Es hatte geduldig gewartet, Stunde um Stunde, daß der Mann zurückkehrte, der das zweite Tier ausgespannt und damit davongeritten war, aber er war nicht gekommen, und es stand noch immer reglos an der gleichen Stelle, unbarmherzig gehalten von den Riemen des Zuggeschirres, die es mit dem Karren verbanden; und er würde auch nicht kommen.
Trotzdem war das Tier nicht allein. Irgendwo hinter ihm bewegte sich etwas, kein Mensch, auch kein anderes Wesen, dessen Geruch es erkannt hätte, aber trotzdem etwas Lebendiges, Atmendes. Es spürte seine Bewegungen, seinen fremdartigen, unangenehmen Geruch, die sonderbaren Geräusche, die es verursachte, seine Fremdheit, und dies alles zusammen trieb das Pferd an den Rand der Raserei. Es schnaubte, warf verzweifelt den Kopf in den Nacken und zerrte und zog mit aller Gewalt an den ledernen Riemen, die es hielten. Die Stöße übertrugen sich über die Deichsel auf den Wagen und ließen die zerbrechliche Konstruktion ächzen, aber der Wagen saß unverrückbar fest im Schlamm, und selbst die Kraft von zehn Pferden hätte nicht gereicht, ihn von der Stelle zu bewegen.
Dafür bewegte sich das Ding auf seiner Ladefläche.
Es war kein Tier, auch keine Pflanze oder irgend etwas anderes Identifizierbares, sondern im Grunde nur eine amorphe, graue Masse; ein wabbeliger Berg aus graugrünem, übelriechendem Schleim wie eine übergroße Amöbe, ohne sichtbare Sinnesorgane oder Glieder. Während der letzten Stunden war es gewachsen, langsam, aber stetig, hatte Norris' Körper verzehrt, seine Kleider, dann die leeren Säcke, die auf dem Wagen gelegen hatten, die Bastkörbe und sogar einen Teil der Holzplanken, aus denen das Gefährt zusammengesetzt worden war. Jetzt hatte es alles organische Material in seiner unmittelbaren Umgebung verschlungen, und sein Wachstum war zum Stillstand gekommen.