Trotzdem war es noch hungrig, und es spürte die Nähe des Pferdes, obgleich es weder über Augen noch Geruchs- oder Gehörsinn verfügte. Der Wagen bebte unter den verzweifelten Stößen, mit denen sich das Pferd gegen sein Geschirr warf, und die Stöße übertrugen sich auf den knochenlosen Körper des Dinges.
Langsam begann es sich zu bewegen. Mühsam, wie eine übergroße nackte Schnecke eine glitzernde Schleimspur hinter sich herziehend, glitt es zum hinteren Ende der Ladefläche, quoll über die Planken und tropfte in langen, zähen Bahnen auf den aufgeweichten Boden hinab. Der Vorgang dauerte lange, zehn, fünfzehn, vielleicht zwanzig Minuten, und als er beendet war, hockte das Ding wie ein meterhoher Berg aus grauem Pudding auf dem Waldweg. Es verharrte eine Weile, als müsse es Kraft schöpfen, dann bewegte es sich wieder: dünne Schleimfäden krochen wie tastende Finger dahin und dorthin, berührten Grashalme und Unkraut, suchten, fühlten, zogen sich zurück oder hoben sich ein Stück in die Luft, als nähmen sie Witterung auf. Dann, ganz langsam, setzte sich die Masse in Bewegung, nach vorne, vorbei an dem halb im Schlamm versunkenen Rad und dem rechten, leeren Geschirr, auf das Pferd zu.
Das Tier begann zu scheuen, als das graue Etwas in seinem Gesichtsfeld erschien. Mit einem verzweifelten Kreischen bäumte es sich auf, schrie seine Angst in die Abenddämmerung hinaus und schlug mit den Vorderhufen.
Das graue Ding kam näher. Dort, wo es entlanggekrochen war, war der Boden nackt und kahl. Gras und alle anderen organischen Materialien waren verschwunden, zu einem Teil der kriechenden, grauen Substanz geworden, aber es war zu wenig, um den unerstättlichen Hunger der Masse zu stillen.
Kurz bevor es das Pferd erreichte, hielt das Ding inne. Das Tier begann vollends zu toben, als der stechende Geruch der amöbenartigen Masse in seine Nüstern drang, stieg auf die Hinterläufe und schlug verzweifelt mit den Vorderhufen nach dem bizarren Angreifer.
Aber nur ein einziges Mal.
Seine Bewegungen erlahmten, kaum, daß seine Hufe die Masse berührt hatten. Ein rasches, krampfartiges Zittern lief durch seinen Leib, der Ausdruck in seinen Augen wechselte von animalischer Furcht zu dumpfer Resignation, seine Angstschreie verstummten.
Es ging ganz schnell. Die graue Masse kroch an seinen Beinen empor, erreichte seinen Leib und begann ihn zu verschlingen. Das Tier starb, schnell und schmerzlos. Die Zellen seines Körpers wurden absorbiert, umgewandelt und zu etwas Fremdem, Unnatürlichem geformt. Schon nach wenigen Augenblicken war keine Spur des Tieres mehr zu sehen. Nur die graue Masse war größer geworden, kein Fladen jetzt mehr, sondern ein mächtiger, zitternder Berg von der stumpfen Farbe geschmolzenen und wiedererstarrten Bleis. Dann hörten auch seine Bewegungen auf.
Lange Zeit geschah nichts. Das graue Ding lag still da, vollkommen reglos, wie tot. Die Stunden reihten sich aneinander, und der Tag wich der Abenddämmerung.
Erst als sich die Sonne langsam dem Horizont näherte, bewegte sich das graue Etwas wieder. Es begann zu zittern, sank, als wäre es plötzlich seines inneren Haltes beraubt worden, auseinander und bildete einen flachen, mehr als zehn Meter durchmessenden Fladen.
Dann begann es sich zu teilen.
Wie bei einer ins Gigantische vergrößerten Zelle zog sich sein Leib in der Mitte zusammen, schnürte sich ein, immer mehr und mehr, bis aus einem Wesen zwei geworden waren, nur noch durch einen haarfeinen Faden miteinander verbunden. Schließlich riß auch der.
Eine der beiden Hälften - die Kleinere - begann sich zusammenzuziehen. Der graue Schleim ballte sich zu einem Klumpen, bildete Arme, Beine, einen Kopf - alles roh und nur angedeutet wie bei einer Lehmskulptur, die nur in Ansätzen fertiggeworden war, aber doch erkennbar. Es war, als wolle es die Gestalt des Menschen, den es verschlungen hatte, nachbilden.
Wieder erstarrte die Masse, als brauche sie Zeit, um neue Kraft zu sammeln, und wieder vergingen Stunden. Dann begannen sich die zwei Wesen, zu denen die Riesenzelle geworden war, zu bewegen, in verschiedenen Richtungen. Die größere, noch immer formlose Hälfte, kroch weiter auf den Wald zu und absorbierte dabei alles, was ihr in den Weg kam. Nur Steine und leblose, bis in eine Tiefe von fast einem halben Meter steril gewordene Erde blieb auf seinem Weg zurück.
Der zweite, menschenähnliche Teil erhob sich schwankend auf die Füße und wandte sich nach Norden, zum Meer. In die Richtung, aus der er den Ruf seines Herrn vernommen hatte.
Langsam, mit ungeschickten, tapsenden Schritten, setzte sich der Shoggote in Bewegung ...
Der Stollen schien kein Ende zu nehmen. Die Decke war so niedrig, daß wir nur stark gebückt gehen konnten, und mehr als einmal blieb Mahoney stehen und räumte fluchend und schnaufend Steine und Erdreich beiseite, die von der Decke gefallen waren, damit wir überhaupt weiter kamen.
Ich wußte nicht, wie lange wir schon hier unten waren. Mein neuer Kampfgefährte hatte mich durch die Sakristei der Kirche in einen winzigen, mit Gerümpel und Abfällen vollgestopften Kellerraum geführt, von dem aus eine ausgetretene Steintreppe weiter in die Tiefe geführt hatte. Dort hatten wir gewartet, Stunde um Stunde, wie es mir vorgekommen war, bis Mahoney seine Uhr gezogen und verkündet hatte, daß draußen die Sonne untergegangen war und es nun Zeit sei, loszugehen. Ich hatte ein paarmal versucht, mit ihm zu reden, um mehr über ihn in Erfahrung zu bringen, aber er hatte mir stets nur ausweichend oder gar nicht geantwortet. Irgendwann hatte ich aufgegeben. Aber meine Lage gefiel mir mit jedem Augenblick weniger. Es war nicht sehr erbaulich, auf Gedeih und Verderb einem Mann ausgeliefert zu sein, von dem man nichts wußte als seinen Namen.
Seitdem tasteten wir uns durch den Gang. Ich hatte vergeblich versucht, mich darauf zu besinnen, wie weit die Kirche vom Hafen entfernt war - ich hatte nicht viel von Durness gesehen, eigentlich nur das, was vom Fenster meines Hotelzimmers aus sichtbar war -, aber nach meiner Schätzung mußten es mindestens zwei Meilen sein, wenn nicht mehr. Wenn der Tunnel wirklich noch aus der Zeit der Wikinger stammte, dann hatten die Menschen damals eine erstaunliche Leistung vollbracht.
Der Gedanke führte einen anderen, weniger angenehmen im Geleit: Wenn der Tunnel wirklich so alt war, dann war das, was Mahoney und ich hier taten, mehr als nur lebensgefährlich. Wir waren immer wieder an Stellen vorbeigekommen, an denen die Decke oder Teile der Seitenwände eingebrochen waren, und mehr als nur einmal hatten wir uns mit bloßer Gewalt Durchgang verschafft. Dabei reichte hier unten wahrscheinlich ein Husten im falschen Moment, das ganze baufällige Gewölbe einstürzen zu lassen ...
Ich verscheuchte die Vorstellung und konzentrierte mich ganz auf die Geräusche, die ich vor mir hörte. Es war stockdunkel hier unten, und obwohl Mahoney eine Lampe aus dem Kirchenkeller mitgenommen hatte, wagten wir es nicht, Licht zu machen. Aber ich konnte mich ganz gut an den Geräuschen seiner Schritte und seinen Atemzügen orientieren.
Mahoney blieb plötzlich stehen und berührte mich an der Schulter. »Wir sind fast da«, sagte er. »Noch alles okay?«
Ich nickte, ehe mir einfiel, daß er die Bewegung ja im Dunkeln nicht sehen konnte. »Ja«, sagte ich. »Wenn ich hier bald rauskomme, schon. Ich fühle mich, als wäre ich lebendig begraben.«