Gordon deutete mit einer stummen Kopfbewegung nach vorne, und Tremayn hob die Lampe ein wenig höher, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Für einen ganz kurzen Moment flackerte die Flamme, und beinahe kam es ihm so vor, als wiche das Licht vor den näherkriechenden Schatten - oder etwas, das sich darin verbarg - zurück. Er verscheuchte den Gedanken und blinzelte angestrengt in das gelbgraue Zwielicht, um zu erkennen, worauf ihn Gordon hatte aufmerksam machen wollen.
Die Tür war nur angelehnt, und an ihrem unteren Rand glitzerte etwas Graues, Feuchtes...
Tremayn unterdrückte den Ekel, der in seiner Kehle emporkroch, ließ sich in die Hocke sinken und beugte sich vor. Eine dünne, feuchte Kruste überzog den unteren Rand der Tür, und jetzt, als Tremayn genauer hinsah, erkannte er die fast halbmeterbreite Schleifspur, die durch den Staub und Schmutz auf die Tür zu und wohl auch dahinter weiterführte. Unwillkürlich mußte er an die Spur denken, die sie hierher geführt hatte - ein breiter, wie glattgeschliffen wirkender Pfad, der quer durch den Wald bis zu diesem halb verfallenen Haus geführt und Gordon und ihn hierher geleitet hatte. Auch dort waren ihm hier und da kleine Pfützen dieser grauen Masse aufgefallen, eine Art Schleim, als wäre eine gigantische Schnecke durch das Unterholz gekrochen und hätte dabei alles absorbiert, was sich ihr in den Weg gestellt hatte. Das ungute Gefühl in seinem Magen wurde stärker.
Mit einem Ruck richtete er sich auf und blickte zu Gordon hoch. »Laß uns verschwinden«, sagte er. »Die Sache gefällt mir nicht.«
Wieder versuchte Gordon zu lachen, aber diesmal zitterte seine Stimme so heftig, daß er es nach wenigen Sekunden aufgab. Seine Hand kroch in die Tasche, suchte einen Moment darin herum und kam mit einem unnötig heftigen Ruck wieder hervor. In seinen Fingern blitzte ein Schnappmesser.
»Hast du Angst?« fragte er. »Vielleicht wartet da oben ja irgendein Monster auf uns, wie?« Er schob kampflustig das Kinn vor, drückte Gordon das Messer in die Hand und schob die Tür mit dem Fuß auf. Der Gang setzte sich dahinter einige Schritte weit fort und endete vor den untersten Stufen einer morschen Holztreppe, die sich nach oben in Ungewissem Zwielicht verlor.
»Nun komm schon, du Feigling«, knurrte er. »Da oben ist nichts. Außer ein paar Spinnen und Fledermäusen vielleicht.«
Tremayn schluckte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter, sah noch einmal unsicher den Weg zurück, den sie gekommen waren, und folgte ihm. Die Treppe knirschte hörbar unter ihrem Gewicht, als sie nebeneinander über die ausgetretenen Stufen hinaufgingen. Das Haus war voller Geräusche, wie es alte, verlassene Häuser nun einmal sind, und der moderige Geruch, der Tremayn schon unten aufgefallen war, wurde stärker.
Gordon blieb stehen, als sie eine weitere Tür erreicht hatten. Auch sie war nur angelehnt, und auch hier waren überall Spuren des grauen, glitzernden Etwas.
Tremayn rümpfte demonstrativ die Nase, als Gordon die Tür aufstieß und ihnen ein wahrhaft atemraubender Schwall von Gestank entgegenschlug.
Sie waren im Dachgeschoß des Hauses. Vor ihnen lag ein langgestreckter, düsterer Raum, der von einem Gewirr halbverrotteter Balken und staubverhangener Spinnweben beherrscht wurde. Da und dort war das Dach eingesunken, so daß sie ausgezackte Bruchstücke des samtblauen Nachthimmels sehen konnten. Die Geräusche des Waldes drangen von draußen herein und vermischten sich mit dem Knarren und Ächzen des Hauses.
Gordon berührte ihn an der Schulter und deutete nach links. Der Dachboden war nicht leer. In der Mitte des Raumes stand ein mächtiger, dick mit Staub und schwarz verkrustetem Schmutz bedeckter Schreibtisch, auf dem zwei altertümliche Petroleumlampen standen und flackernde, rotgelbe Helligkeit verbreiteten. Und hinter diesem Schreibtisch saß ein Mann.
Tremayn schluckte mühsam, um den bitteren Kloß, der plötzlich in seinem Hals war, loszuwerden. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, einem Toten gegenüberzustehen, aber dann erkannte er, daß das nicht stimmte. Er saß in unnatürlich steifer Haltung auf dem hochlehnigen, geschnitzten Stuhl, die Augen weit geöffnet und starr, und auf seinen eingefallenen bleichen Zügen lag grauer Staub. Er blinzelte nicht. Vor ihm lag ein mächtiges, in dunkelgraues und steinhart gewordenes Schweinsleder gebundenes Buch. Es war aufgeschlagen, und Tremayn erkannte trotz der unzureichenden Beleuchtung und der großen Entfernung, daß die Seiten mit fremdartigen, bizarren Schriftzeichen übersät waren.
»Mein Gott«, murmelte er. »Was ...« Er keuchte, prallte mitten im Schritt zurück und griff so fest nach Gordons Arm, daß dieser vor Schmerz aufstöhnte.
»Er ist tot!« keuchte er. »Mein Gott, er ...«
Gordon machte mit einer wütenden Geste seinen Arm los und trat einen halben Schritt zur Seite.
»Der ... der Bursche ist tot!« stammelte Tremayn noch einmal. Seine Stimme zitterte und stand dicht davor überzukippen.
»Das sehe ich auch«, schnappte Gordon gereizt. »Und zwar schon eine ganze Weile.« Er lachte hart, um seine eigene Nervosität zu überspielen. »Der tut dir nichts mehr, du Feigling. Komm schon.« Er machte einen Schritt und wartete darauf, daß Tremayn ihm folgte, aber der rührte sich nicht von der Stelle. Auf seiner Stirn glitzerte Schweiß.
»Was ist mit dir?« fragte Gordon. »Fürchtest du dich vor einem Toten?«
Tremayn schüttelte den Kopf, blickte Gordon für die Dauer eines Atemzuges unsicher an und nickte plötzlich. »Das gefällt mir nicht«, sagte er. »Laß uns verschwinden. Hier ... hier gibt es sowieso nichts zu holen.«
Gordons linke Augenbraue rutschte ein stückweit seine Stirn hinauf. »Woher willst du das wissen?« fragte er. »Immerhin können wir uns wenigstens mal umsehen, oder?« Er schüttelte den Kopf, schnitt Tremayn mit einer entschiedenen Bewegung das Wort ab, als dieser erneut widersprechen wollte, drehte sich um und ging - weit weniger sicher und selbstbewußt, als es ihm lieb gewesen wäre, auf den Schreibtisch und den Toten zu.
Tremayn schluckte nervös und trat einen Moment unentschlossen auf der Stelle. Plötzlich schien ihm wieder einzufallen, daß er noch immer Gordons Messer in der Hand hielt. Verlegen und überhastet ließ er die Klinge in den Griff zurückschnappen, steckte das Messer ein und machte einen zögernden Schritt, aber nur, um gleich darauf wieder stehenzubleiben. »Laß uns verschwinden«, sagte er noch einmal. »Bitte.«
Gordon ignorierte ihn.
Aber auch seine Schritte wurden langsamer, und er fühlte, wie das Unbehagen, das auch von ihm Besitz ergriffen hatte, sich allmählich in pure Angst zu verwandeln begann. Die Dunkelheit auf dem Dachboden schien zu raschelndem, flüsterndem Leben zu erwachen, als sie sich dem Schreibtisch und dem Toten dahinter näherten. Gordon fiel auf, daß das Licht der beiden Petroleumlampen, die rechts und links von ihm auf der Schreibtischplatte standen, nur wenige Schritte weit reichte; viel weniger weit, als normal gewesen wäre. Der Tisch stand inmitten einer Insel flackernder, trüber Helligkeit, die von einem finsteren Belagerungswall aus Schwärze und Ungewissen, wogenden Schatten umgeben war. Und irgend etwas an seinem Gesicht kam Gordon auf beinahe furchteinflößende Weise bekannt vor, gleichermaßen vertraut wie abstoßend, aber er wußte nicht, was. Der bittere Kloß in seinem Hals war noch immer da, und sein Magen krampfte sich langsam zu einem harten, schmerzhaften Ball zusammen. Einen ganz kurzen Moment lang blitzte die Frage in seinem Bewußtsein auf, wer die beiden Lampen entzündet haben mochte und warum, aber der Gedanke entschlüpfte ihm, ehe er ihn richtig fassen konnte.