Ich biß mir im letzten Augenblick auf die Zunge und starrte ihn nur an, statt loszubrüllen, wonach mir zumute war. Das Schlimme war, daß ich im Grunde ganz genau wußte, daß er recht hatte. Alles hatte davon abgehangen, daß es uns gelang, die Kiste mit den magischen Büchern meines Vaters zu bergen. Aber wir hatten sie nicht geborgen, und die Bücher waren - was schlimmer war - in der Hand unserer Feinde.
Unserer Feinde ... Der Gedanke weckte eine Menge unangenehmer Erinnerungen in mir, Bilder, die ich in den letzten drei Tagen mit aller Macht zu vergessen versucht hatte. Mühsam schüttelte ich sie ab und versuchte, Howards Gesicht durch den blauen Nebel zu erkennen, der die Kajüte füllte. Trotz der Kälte hatte ich demonstrativ eines der Bullaugen geöffnet, aber Howard produzierte schneller neuen Rauch, als der alte abziehen konnte. Seit ich ihn kennengelernt hatte, waren nur wenige Augenblicke vergangen, in denen er nicht rauchte. Manchmal hatte ich ihn im Verdacht, seine stinkenden Räucherstäbchen selbst mit in die Badewanne zu nehmen. Seine Lungen mußten so schwarz wie Yog-Sothoths Seele sein.
Das Geräusch harter Schritte auf dem Deck über uns drang in meine Gedanken. Ich sah auf, als die Tür geöffnet wurde und ein schmaler Streifen trüben Lichtes die Treppe herabfiel. Kurz darauf erschien Rowlfs breitschultrige Gestalt im Eingang.
Howard stand auf, schnippte seine kaum angerauchte Zigarre aus dem Bullauge und trat Rowlf entgegen. »Nun?«
»Wiewer vermut' ham'«, nuschelte Rowlf. »Bensen war seit zwei Tagn nich mehr zu Hause. Hattn auch keener gesehn.« Sein Gesicht war gerötet, ein deutliches Zeichen für die grimmige Kälte, die sich über die schottische Küste gelegt hatte und nun mit Nachdruck darauf hinwies, daß der Winter vor der Tür stand. »Aber inner Stadt is der Teufel los«, fügte er nach einer Pause hinzu. »War besser, wenn wer uns da nich seh lassn würn'.«
Howard wirkte nicht sehr überrascht. Es gehörte nicht sehr viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was nach unserem überhasteten Aufbruch in Durness geschehen war - immerhin waren drei Menschen verschwunden, unter recht mysteriösen Umständen noch dazu, und das, nachdem Howard der letzte war, der sie lebend zu Gesicht bekommen und mit ihnen geredet hatte. Und ich selbst hatte mit meinem dramatischen Abgang aus dem Hotel sicher nicht dazu beigetragen, das Mißtrauen zu zerstreuen.
Howard seufzte hörbar, angelte eine neue Zigarre aus der Brusttasche, zündete sie aber zu meiner Erleichterung nicht an, sondern kaute nur einen Augenblick lang nachdenklich auf ihrem Ende herum, ehe er es abbiß und aus dem Fenster spuckte. »Sonst ist dir nichts aufgefallen?« fragte er.
Rowlf zögerte. Es war schwer, auf seinem Bulldoggengesicht irgendeine klare Regung abzulesen, erst recht im schummerigen Halbdunkel der Kabine, aber ich glaubte doch zu erkennen, daß es da noch irgend etwas gab, was ihm auf der Seele brannte.
»Nun?« fragte Howard.
»Ich weiß nicht«, murmelte Rowlf. »Vielleicht isses nicht wichtig, aber ...«
»Aber?« Howard riß ein Streichholz an und blinzelte.
»S'sin paar komische Sachen passiert innen letzten zwei Tagn«, sagte Rowlf und lächelte unsicher. »Ich war auf'n Bier im Pub unten am Hafen und hab die Ohr'n offengehaltn.«
»Und was«, fragte Howard, und ich spürte dabei deutlich, wieviel Kraft es ihn kostete, wenigstens äußerlich noch gelassen und geduldig zu erscheinen, »hast du gehört, Rowlf?«
»Nix Bestimmtes«, antwortete Rowlf ausweichend. »Komische Geschichten ebn'. Biergerede.«
»Biergerede, so?« Howard nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, hustete und bedachte mich mit einem finsteren Blick, als er mein schadenfrohes Grinsen bemerkte.
»Du solltest dir ein gesünderes Laster suchen«, sagte ich freundlich.
Howard ignorierte meine Worte, hustete erneut und sog sich gleich darauf wieder die Lungen voll Rauch. »Ich bin durstig«, sagte er plötzlich. »Was haltet ihr davon, wenn wir in den Pub gehen und uns eines von den berühmten englischen Bieren genehmigen? Auf meine Kosten.«
»Nich sehr viel«, antwortete Rowlf.
»Er hat recht«, fügte ich hinzu. Howards Vorschlag überraschte mich. Wir hatten uns seit zwei Tagen praktisch auf diesem Schiff verkrochen und kaum die Kajüte verlassen - und plötzlich wollte er in die Stadt, nur weil Rowlf irgendwelche Geschichten gehört hatte?
»Ich glaube nicht, daß es klug wäre, wenn wir uns jetzt in der Stadt sehen lassen würden«, fuhr ich fort. »Die Leute könnten anfangen, dumme Fragen zu stellen.«
»Wir erregen genausoviel Aufsehen, wenn wir uns auf diesem Kahn verkriechen«, widersprach Howard. »Durness ist nicht London, Junge. Sie haben bereits angefangen, über uns zu reden, mein Wort darauf, und ...«
»Warum sind wir dann überhaupt noch hier?« fragte ich, obwohl ich ganz genau wußte, daß ich keine Antwort bekommen würde. »Eben«, grinste Howard. »Du hast es erfaßt, Robert. Gehen wir in den Pub und genehmigen wir uns ein Bier, oder auch zwei. Ich möchte endlich wieder festen Boden unter den Füßen spüren.«
Ich resignierte. Es war nicht das erste Mal, daß ich zu spüren bekam, wie konsequent Howard war, wenn er sich vorgenommen hatte, über irgend etwas nicht zu reden. Kopfschüttelnd griff ich nach meinem Wettermantel, der zerknautscht auf der schmalen Koje neben der Treppe lag, streifte ihn über und verließ die Kajüte.
Es begann bereits zu dunkeln. Die Stadt lag wie ein massiger, schwarzer Halbkreis aus Schatten über dem Hafen, und hier und da waren bereits die ersten Lichter zu erkennen. Der Himmel war bedeckt, wie er es seit Tagen gewesen war, aber wenigstens regnete es nicht, und der Wind war weniger kalt, als ich befürchtet hatte.
Es war still. Das Meer war seit Tagen unruhig, und die wenigen Fischerboote, die trotz des schlechten Wetters am Morgen herausgefahren waren, waren längst zurückgekehrt und lagen sicher vertäut und verlassen am Kai. Unser Schiff war das letzte in der langen, durchbrochenen Kette verschieden großer Schiffe und Boote, die an der kniehohen Kaimauer festgemacht hatten, und wir hatten auch von dem normalen Tagesbetrieb kaum etwas mitbekommen. Jetzt war der Hafen verlassen und dunkel, bis auf das blasse Licht, das hinter den Scheiben der Bretterbude flackerte, in der der Hafenwächter schnarchte.
Und trotzdem zeigte mir gerade dieser so täuschend friedliche Anblick, in welch mißlicher Lage wir uns befanden. Die Leute hier in Durness mußten schon mehr als nur blind sein, wenn sie nicht auf die drei sonderbaren Fremden aufmerksam werden sollten, die in dem gemieteten Boot ganz am Ende des Hafens hausten und nur nach Dunkelwerden einmal ihre Nasen ins Freie streckten. Wahrscheinlich waren wir das Tagesgespräch in den Pubs und Kneipen.
Ich wartete, bis Howard und Rowlf hinter mir die Treppe hinaufgepoltert waren, zog den Mantel enger um die Schultern und setzte mit einem kraftvollen Sprung auf die Kaimauer über.
Fast wäre ich gestürzt. Zwei Tage an Bord des winzigen Schiffchens hatten mich die Brandung vergessen lassen; das Heben und Senken der Planken unter meinen Füßen war mir so vertraut geworden, daß ich es gar nicht mehr bemerkt hatte. Dafür schien der feste Boden jetzt unter mir zu schwanken.
Rowlf grinste, als er meine Unsicherheit bemerkte, verbiß sich aber vorsichtshalber jede Bemerkung und deutete mit einer vagen Geste nach vorne, zur Stadt hinauf. »Besser, wir gehn irgendwohin, wo uns niemand nich kennt«, brummelte er. »Sindn bißchen gereizt, die guten Leute.«
Howard nickte zustimmend, zog seinen Hut tiefer in die Stirn und senkte den Kopf, als eine plötzliche, eisige Brise vom Meer her über die Kaimauer fauchte. Irgendwo, sehr weit entfernt, grollte Donner. Das Gewitter hatte vor drei Tagen begonnen und kam in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen zurück oder meldete sich wenigstens von Zeit zu Zeit mit einem einzelnen Blitz oder dem entfernten Echo eines Donnerschlages. Es war nicht mehr zu leugnen, daß der Winter seinen Einzug hielt.