Sean nickte. »Ich habe mit Miß Winden gesprochen«, sagte er, so leise, als befürchte er, daß seine Worte von irgend jemandem innen im Haus belauscht werden könnten. »Sie können ihre Tochter sehen. Ich habe ihr erzählt, daß Sie ein Wissenschaftler aus London sind, der zufällig auf der Durchreise ist, also bleiben Sie dabei.«
Howard nickte und wollte an ihm vorbei ins Haus gehen, aber Sean hielt ihn mit einem raschen Griff am Arm zurück. »Noch was, Phillips«, sagte er. »Machen Sie ihr keine falschen Hoffnungen, nur um sie zu trösten.«
Howard streifte seine Hand ab und wollte antworten, aber Sean wandte sich bereits um und verschwand ohne ein weiteres Wort im Haus. Er hatte gesagt, was er sagen wollte, und er schien sich hundertprozentig darauf zu verlassen, daß Howard die Warnung, die unausgesprochen in seinen Worten mitgeschwungen hatte, verstand. Mein Respekt vor dem dunkelhaarigen Riesen wuchs. Und mein Mißtrauen. Dieser Mann war alles andere als ein Hafenarbeiter.
Hintereinander folgten wir Sean ins Haus. Der Flur war dunkel und feucht, und in der Luft hing ein muffiger Geruch, vermischt mit Kälte, die durch die dünnen Wände hereingekrochen war und sich im Mauerwerk festgekrallt hatte. Eine Treppe führte ins Obergeschoß hinauf, so schmal, daß wir hintereinander gehen mußten, und so verrottet, daß ich mich hütete, mich auf das schmutzstarrende Geländer zu stützen. Das Licht der Kerze in Seans Händen warf flackernde Schatten gegen die Wände und die Decke, und die sonderbar dumpfe Akustik des Treppenhauses ließ das Geräusch unserer Schritte und das Knarren der ausgetretenen Stufen zu einem Wispern und Flüstern werden, das mich schaudern ließ.
Und noch etwas war seltsam: Mit jeder Stufe, die ich nahm, fiel es mir schwerer, weiterzugehen. Es war kein wirklicher Widerstand, keine unsichtbare Kraft, die mich zurückhielt, sondern ein Gefühl, als sträube sich etwas in meinem Inneren, weiterzugehen. Das Haus war unheimlich. Das Haus - oder etwas in ihm. Es war nicht leer. Und es war kein Gebäude, das nur von Menschen bewohnt war. Ich hatte ein Gefühl wie dieses schon einmal verspürt, ich wußte nur nicht, wo und wann. Aber ich wußte, daß es noch nicht lange her war ...
Sean öffnete eine schmale Tür am oberen Ende der Treppe und machte eine stumme, einladende Geste. Es kostete mich unendliche Überwindung, hinter ihm und Howard in den dahinterliegenden Raum zu treten.
Eine Petroleumlampe verbreitete trübes, gelbes Licht und ließ unsere Gestalten bizarre Schatten gegen die Wände werfen. Das Zimmer war klein und so heruntergekommen wie das ganze Haus, und es war - wie ich auf den zweiten Blick erkannte - nicht nur ein Zimmer, sondern die ganze Wohnung. Gleich neben der Tür stand ein rußgeschwärzter Kohleherd neben einem offenen Regal, in dem sich eine Anzahl verbeulter Töpfe und wenige Tassen und Teller stapelten. Ein Schrank, ein Tisch mit vier wackeligen Stühlen und zwei niedrige Betten stellten die gesamte übrige Einrichtung dar.
Aber es bereitete mir Mühe, das Bild überhaupt aufzunehmen. Das Gefühl des Widerwillens, das ich auf der Treppe verspürt hatte, hatte sich fast ins Unerträgliche gesteigert. Mein Atem ging schnell und stoßweise, und ich mußte die Fäuste ballen, um das Zittern meiner Hände zu verbergen. In diesem Zimmer war etwas. Etwas Fremdes, Böses, Lauerndes. Es war keine Einbildung. Ich spürte überdeutlich, daß außer uns und Miß Winden und ihrer Tochter noch irgend etwas im Zimmer war.
»Doktor Phillips.« Sean warf Howard einen raschen, fast beschwörenden Blick zu, nickte dann übertrieben und deutete mit der Hand auf eine vielleicht vierzigjährige, schlanke Frau, die bisher auf dem Rand eines der Betten gesessen hatte und bei unserem Eintreten aufgestanden war. »Miß Winden, meine Wirtin.« Er drehte sich um, und ich sah, wie der ernste Ausdruck auf seinen Zügen von einem wirklich herzlichen Lächeln abgelöst wurde. Er mußte diese Frau sehr mögen. »Miß Winden, das ist Doktor Phillips. Er möchte nach Sally sehen.«
»Doktor?« Ein schwacher Schimmer von Hoffnung glomm in den dunklen Augen der Frau auf. »Sind Sie Arzt?«
Howard schüttelte hastig den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bin Wissenschaftler, Miß Winden. Die beiden Herren sind mein Leibdiener und mein Neffe.« Er deutete auf das Bett, »Ihre Tochter, nehme ich an.«
Ich sah die schmale Gestalt hinter Miß Winden erst jetzt. Trotz des heruntergekommenen Zustandes der Wohnung war das Bett mit sauberen weißen Laken bezogen, auf denen das schmale Gesicht des Mädchens fast unsichtbar war. Trotz des schlechten Lichtes erschrak ich, als ich sah, wie bleich ihre Haut war.
Als Miß Winden nicht antwortete, trat Howard ohne ein weiteres Wort um das Bett herum, ließ sich auf seiner Kante nieder und streckte die Hand nach dem Gesicht des Mädchens aus. Ihre Augen standen offen und bewiesen, daß sie nicht schlief oder das Bewußtsein verloren hatte, aber sie reagierte trotzdem nicht auf die Berührung, als Howards Finger über ihre Wange strichen.
»Robert.« Howard sah auf und winkte mir, heranzutreten. Ich nickte, machte einen Schritt und blieb stehen. Howard sah mich irritiert an, besaß aber gottlob genügend Geistesgegenwart, nichts zu sagen, sondern sich rasch wieder über das Mädchen zu beugen.
Meine Knie zitterten. Das Gefühl der Bedrohung steigerte sich ins Unerträgliche; ich mußte all meine Willenskraft aufbieten, um nicht herumzufahren und aus dem Zimmer zu stürzen, so schnell ich konnte.
Und plötzlich wußte ich, woher dieses Gefühl kam, wo die Quelle dieser fremden, unsagbar bösartigen Ausstrahlung war.
Es war das Mädchen.
Ihre Augen waren weit geöffnet, und ihr Blick war starr in den meinen gerichtet. Und was ich darin las, war ein so grenzenloser Haß, daß ich innerlich aufstöhnte, eine unbeschreibliche Wut auf alles Lebende, Fühlende. Haß, der die Grenzen des Vorstellbaren überstieg und fast körperlich spürbar war.
Und dieser Haß galt mir.
Mit aller Kraft, die ich aufzubringen imstande war, machte ich einen weiteren Schritt auf das Bett zu. Das Gesicht des Mädchens zuckte. Blasiger, dünner Schaum erschien auf ihren Lippen, und ein tiefer, stöhnender Laut entrang sich ihrer Brust. Ihre Hände krümmten sich auf der Decke zu Krallen, die Fingernägel zerrissen den Stoff.
»Geh«, keuchte sie. »Geh ... weg von ... mir.«
Der Klang ihrer Stimme ließ mich frieren.
Es war nicht die Stimme eines jungen Mädchens, nicht einmal die einer Frau. Was wir hörten, war ein mißtönendes, schauriges Krächzen, in dem die einzelnen Worte kaum zu verstehen waren, ein Laut, als versuche ein Tier, dessen Stimmbänder nicht dafür gedacht waren, zu sprechen.
Ich machte einen weiteren Schritt, dann noch einen und noch einen, blieb neben dem Bett stehen und sank langsam in die Hocke. Sallys Augen weiteten sich, ein gurgelnder, fürchterlicher Laut kaum über ihre Lippen, und ihre Hände zuckten, als wolle sie nach mir schlagen. Howard blickte irritiert zwischen mir und dem Mädchen hin und her. Das stumme Duell zwischen uns war ihm nicht entgangen.
»Geh ... weg«, gurgelte Sally. »Geh weg von ... mir.«
»Sie phantasiert«, sagte Howard hastig, als Sallys Mutter neben mich trat. Für einen Moment löste ich meinen Blick von dem des Mädchens und sah Miß Winden an. Ihr Gesicht war angespannt, die Lippen zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammengepreßt. Ich sah die Angst in ihren Augen.
Howard stand auf und bedeutete mir mit einer raschen, verstohlenen Geste, ebenfalls von Sallys Bett zurückzutreten. Rasch stand ich auf, drehte mich herum und unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen. In meinem Inneren tobte ein wahrer Sturm von Gefühlen. Und vor allem Furcht. Dieses Mädchen war kein Mensch mehr. Nicht wirklich. Sie war nicht mehr als eine Hülle, in der etwas Fremdes und Böses lauerte.
Howard trat ein paar Schritte vom Bett zurück, wartete, bis ich ihm gefolgt war, und wandte sich an Miß Winden. »Wie lange ist sie schon in diesem Zustand?« fragte er. »Sie hat hohes Fieber, wissen Sie das?«