Wir gingen nicht direkt in die Stadt, sondern kehrten noch einmal zum Boot zurück. Howard gebot uns mit einer Geste, am Kai zu warten, setzte mit einem gewagten Sprung auf das schwankende Deck des Schiffchens über und verschwand mit raschen Schritten unter Deck. Der Regen nahm zu, und draußen über dem Meer ballten sich bereits neue Gebilde aus schwarzen Wolken zusammen, während wir, frierend und wie eine Herde verängstigter Schafe eng zusammengedrängt, auf Howards Rückkehr warteten.
Er blieb lange unter Deck, und als er wieder heraufkam, trug er einen grauen Leinenbeutel in den Händen und hatte seinen Mantel abgelegt, trotz der unbarmherzigen Kälte. Wortlos sprang er auf die Uferbefestigung hinauf, kam zu uns herüber und öffnete seinen Beutel.
Sean stieß ein erstauntes Keuchen aus, als er sah, was darin war.
Revolver.
Es waren vier klobige, mit weißen Perlmuttgriffen besetzte Trommelrevolver, langläufig und von einem Kaliber, das selbst einem Elefanten Respekt eingeflößt hätte. Schweigend reichte Howard jedem von uns - außer Gordon - eine Waffe, schob sich selbst den letzten verbliebenen Revolver unter der Jacke in den Gürtel und warf den Beutel achtlos ins Wasser.
»Was bedeutet das?« fragte Sean mißtrauisch, während er die Waffe in den Händen drehte und sie betrachtete, als wüßte er nicht genau, was er da überhaupt hatte. In seinen gewaltigen Pranken wirkte der Revolver wie ein Spielzeug.
»Eine reine Vorsichtsmaßnahme«, sagte Howard. »Es besteht kein Grund zur Sorge. Steckt sie weg und sorgt dafür, daß niemand etwas davon sieht.«
»Eine Vorsichtsmaßnahme?« Sean lachte böse. »Wenn wir keinen Grund zur Sorge haben, dann ist das ein bißchen übertrieben, finden Sie nicht?«
»Stecken Sie sie weg«, sagte Howard, ohne direkt auf seine Frage zu antworten. »Bitte.«
»Was soll das heißen?« Gordon, der bisher kein Wort gesagt, sondern Howard nur mit wachsender Verwirrung angestarrt hatte, trat mit einem raschen Schritt zwischen ihn und Sean und streckte die Hand aus, als wolle er Howard am Kragen packen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. »Wieso diese Pistolen? Sie haben gesagt, Sie würden Tremayn helfen, und jetzt ...«
Ich verstand nicht, was er weiter sagte. Ein einzelner, krachender Donnerschlag rollte vom Meer heran und verschluckte seine Worte. Howard fuhr bei dem Geräusch zusammen, drehte sich instinktiv herum -
- und erstarrte.
Das Meer hatte sich verändert, von einer Sekunde auf die andere. Aus der grauen, sturmgepeitschten Wasserfläche war eine nachtschwarze Ebene geworden, über der sich Schatten zu huschenden Schemen ballten, und im Norden zuckte Blitz auf Blitz aus den Wolken, ohne daß der geringste Laut zu hören war. Der Wind steigerte sich in Sekundenbruchteilen zu einem tobenden Orkan, und der Regen schien plötzlich aus zahllosen winzigen Nadeln zu bestehen, die schmerzhaft in mein Gesicht stachen.
»Mein Gott!« keuchte Sean. »Was ist das?«
Wie zur Antwort auf seine Frage spaltete ein weiterer, blauweiß blendender Blitz das Firmament.
Und dann brach die Hölle los.
Ein ungeheures Dröhnen und Grollen ließ den Boden unter unseren Füßen erbeben. Die Blitze zuckten so rasch hintereinander, daß der gesamte Horizont wie in einer blauweißen, unerträglich grellen Orgie aus Licht aufzuflammen schien, als wäre die Welt selbst in Brand geraten. Howard schrie etwas, aber der nicht enden wollende Donner riß ihm die Worte von den Lippen. Der Regen fiel so dicht, als wären die Wolken über uns mit einem einzigen Schlag zerbrochen.
Und aus dem Meer krochen Schatten.
Im ersten Moment hielt ich es für Nebel, aber dann sah ich, daß das nicht stimmte. Es waren Schatten.
Menschliche Schatten.
Lautlos und mit umständlich aussehenden, aber raschen Bewegungen, tauchten sie aus dem Wasser, griffen mit rauchigen Armen nach der Kaimauer und zogen sich hinauf, erst einer, dann zwei, drei - schließlich ein ganzes Dutzend. Sean schrie auf, riß seinen Revolver aus der Tasche und schoß; drei-, vier-, fünfmal hintereinander. Der Donner verschluckte das Geräusch der Schüsse, aber ich sah das Mündungsfeuer wie kleine orangerote Blitze nach den Schattengestalten stechen.
Und ich sah, wie die Kugeln weit hinter den höllischen Kreaturen Funken aus dem Boden schlugen, ohne ihnen den geringsten Schaden zuzufügen.
»Weg!« brüllte Howard. »Lauft um euer Leben!«
Seine Worte rissen mich endlich aus meiner Erstarrung. Ich fuhr herum, versetzte Gordon, der mit offenem Mund und ungläubig aufgerissenen Augen dastand und das unglaubliche Bild anstarrte, einen rüden Stoß, und taumelte vom Ufer weg.
Aber ich kam nur wenige Schritte weit.
Über der schmalen Straße ballte sich Nebel zusammen, lautlos und unglaublich schnell. Und hinter diesem Nebel bewegten sich Schatten ...
»Zurück!« schrie Howard mit überschnappender Stimme. »Robert! Gordon! Paßt auf!«
Seine Warnung kam zu spät. Der Nebel floß mit unglaublicher Geschwindigkeit auf uns zu, hüllte Gordon und mich ein und legte sich wie eine brodelnde Barriere aus wogendem Grau und Kälte zwischen uns über die Straße. Gordon schrie auf, warf die Arme in die Luft und brach mit einem gurgelnden Laut zusammen.
»Robert, komm zurück!« brüllte Howard. »Geh nicht hin!«
Ich ignorierte seine Worte, fuhr herum und hetzte mit zwei, drei gewaltigen Sätzen zu Gordon zurück. Der Nebel wurde dichter und legte sich wie ein schmieriger, kalter Film auf meine Haut, und die Kälte wurde unerträglich. Wie aus weiter Ferne hörte ich Gordon schreien, und es waren keine Schreie der Angst, sondern ein verzweifeltes Schmerzgebrüll. Ich stolperte, verlor um ein Haar das Gleichgewicht und blieb stehen. Der Nebel hüllte mich ein wie graue Watte, und meine Haut begann zu brennen, als wären die winzigen Wassertröpfchen, die er darauf ablud, mit Säure versetzt.
»Robert, komm zurück! Du kannst ihm nicht helfen!«
Howards Stimme klang unwirklich, und sie hörte sich an, als wäre er Meilen entfernt. Irgendwo vor mir schrie Gordon noch immer, aber ich sah nichts außer dem wogenden Grau des Nebels und den huschenden Schatten, die sich dahinter verborgen hatten. Ich glaubte Menschen zu erkennen, vielleicht auch andere, schrecklichere Wesen, zerfließende, dunkle Umrisse, die aus dem Nichts auftauchten und sich irgendwo vor mir versammelten, um Dinge zu tun, die ich nicht erkennen konnte.
Gordon!
Ohne auf Howards Warnung zu hören, stürzte ich vor, schlug mit den Händen in den Nebel und brüllte verzweifelt Gordons Namen. Die Schatten spritzten auseinander, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, in ein verzerrtes, bizarr entstelltes Gesicht zu starren, die Fratze eines Toten, auf unvorstellbare Weise verzerrt und verdreht, der Mund ein zerfranster Schlitz, hinter dem faulige Zähne und blanker Knochen sichtbar wurden. Ich schrie vor Schrecken, hob die Faust und schlug instinktiv zu, aber meine Hand durchdrang das Gesicht, als wäre es nichts weiter als eine Illusion.
Halb verrückt vor Angst taumelte ich weiter. Der Nebel wurde noch dichter, quoll mir wie zäher, klebriger Rauch entgegen und ließ meine Haut brennen. Meine Augen schmerzten und ich konnte kaum noch sehen. Aber ich mußte Gordon finden. Er war irgendwo vor mir, verborgen von diesem unheimlichen, ätzenden Nebel, und seine Schreie klangen kaum mehr menschlich. Er starb.
Mein Fuß stieß gegen ein Hindernis. Ich stolperte, kippte mit wild rudernden Armen zur Seite und schlug schwer auf dem Boden auf. Eine halbe Sekunde lang blieb ich benommen liegen, dann stemmte ich mich hoch, drehte mich herum und griff blindlings in den Nebel hinein.
Meine Hand bekam etwas Weiches, Nachgiebiges zu fassen, tastete weiter, fühlte Augen, eine Nase, Lippen - ein Gesicht. Gordons Gesicht!