Mit einer verzweifelten Bewegung warf ich mich vor, tastete blind nach Gordons Schultern und versuchte, ihn auf die Füße zu zerren, aber er war zu schwer. Meine Hände waren plötzlich feucht, feucht und klebrig, aber ich versuchte gar nicht daran zu denken, was es war, das ich fühlte. Gordon schrie noch immer. Sein Körper zuckte wie in Krämpfen unter meinen Händen, aber er machte keine Anstalten, mir zu helfen. Obwohl ich nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war, konnte ich ihn noch immer nicht richtig erkennen. Alles, was ich sah, war ein länglicher dunkler Umriß hinter dem Nebel.
Eine Hand ergriff mich bei der Schulter und riß mich mit einem so harten Ruck zurück, daß ich Gordons Jacke fahren ließ und abermals das Gleichgewicht verlor. Rowlf! Er schrie etwas, das ich nicht verstand, zerrte mich rücksichtslos auf die Füße und stieß mich vorwärts, in den Nebel hinein und fort von Gordon. Ich versuchte mich zu wehren, aber Rowlfs gewaltigen Körperkräften hatte ich nichts entgegenzusetzen. Ohne auf meinen Protest und meine verzweifelte Gegenwehr zu achten, zerrte er mich mit sich. Erst als die Gestalten Howards und Seans vor uns auftauchten, ließ er meine Hand los.
»Verdammt, Rowlf, wir müssen zurück!« keuchte ich. »Gordon ist noch dort drinnen!«
»Du kannst ihm nicht mehr helfen, Junge.« Howard berührte mich an der Schulter und deutete mit der anderen Hand zurück auf die brodelnde graue Wolke, die die Straße hinter uns versperrte.
Ich erschrak. Erst jetzt, als ich aus dem Nebel heraus war, sah ich, wie dicht die kochende, graue Masse war. Es sah kaum mehr aus wie Nebel, sondern eher wie eine zähe, sirupartige Flüssigkeit, die unter einer inneren Spannung kochte und brodelte. Die Gestalten der Schattenwesen waren nicht mehr zu erkennen, und auch von Gordon war keine Spur mehr zu sehen. Er hatte aufgehört zu schreien, aber ich glaubte, das verzweifelte Gellen noch immer in meinen Ohren zu hören.
»Du kannst ihm nicht helfen, Robert«, sagte Howard noch einmal. »Niemand kann das.« Er schüttelte den Kopf, sah mich ernst an und deutete auf meine Hände.
Sie waren rot. Die klebrige Wärme, die ich gefühlt hatte, war Blut gewesen. Für einen Moment glaubte ich noch einmal das schreckliche Bild vor mir zu sehen, das sich mir im Inneren der Nebelwolke geboten hatte - Schatten, die aus allen Richtungen herbeihuschten und sich lautlos über den verzweifelt um sich schlagenden Körper eines Menschen beugten, seine Schreie, die spitzer und spitzer wurden und nicht enden wollten ...
Ich stöhnte leise, schloß für einen Moment die Augen und kämpfte die Übelkeit zurück, die in meiner Kehle emporkroch.
Als ich die Lider wieder öffnete, war der Nebel verschwunden. So rasch, wie die unheimlichen Schwaden gekommen waren, hatten sie sich wieder im Nichts zurückgezogen, und mit ihnen waren die Schattenwesen gegangen, wie ein Spuk, der sich unter den ersten Strahlen der Sonne auflöst.
Und mit ihm war Gordon verschwunden. So spurlos wie ein Schatten.
»Dort.« Sean deutete mit einer abgehackt wirkenden Geste auf ein graues, dreigeschossiges Haus ganz am Ende der Straße. Wir waren nicht lange unterwegs gewesen - zehn, vielleicht fünfzehn Blocks vom Hafen entfernt, noch nicht in der eigentlichen Innenstadt, aber auch nicht mehr im eigentlichen Hafengebiet, sondern in der schmalen, von kleinen Geschäften mit blinden Schaufensterscheiben und bescheidenen Häusern mit zahllosen winzigen Wohnungen beherrschten Gegend, in der die Hafen- und Fabrikarbeiter von Durness wohnten und die Fremde wohl nur selten wirklich bewußt zur Kenntnis nahmen. Die Gegend war nicht so schlimm wie die, in die er uns gestern abend geführt hatte. Trotzdem war es kein Viertel, in das ich freiwillig allein und nach Dunkelwerden gegangen wäre.
Und es war still und scheinbar menschenleer wie die, in der wir gestern nacht gewesen waren. Hier und da brannte Licht hinter den geschlossenen Läden der Wohnungen, aber nirgends war auch nur ein einziger Mensch zu sehen. Der Nebel war uns nachgekrochen und hing wie graue, flockige Schleier zwischen den Häusern, aber es war jetzt ein ganz normaler Nebel. Trotzdem ließ mich der Anblick frösteln.
»Warum sind es immer die Armen, die es als erste trifft?« dachte ich.
»Weil es einen Grund dafür gibt, Robert«, antwortete Howard. Ich fuhr zusammen und sah ihn beinahe verlegen an. Mir wurde erst jetzt klar, daß ich den Gedanken laut ausgesprochen hatte.
»Einen Grund?«
Howard nickte. »Sie sind selten glücklich, Robert. Und das Böse sucht sich seine Opfer immer da, wo das Unglück bereits Einzug gehalten hat.«
Die Worte hörten sich seltsam theatralisch an, aber Howard brachte mich mit einer entschiedenen Geste zum Schweigen, als ich eine weitere Frage stellen wollte, und wandte sich wieder an Sean. »In diesem Haus?«
»Ja. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, sie wohnen ganz oben, in einer ausgebauten Dachkammer. Wir werden sehen.« Er wollte losgehen, aber Howard hielt ihn am Arm zurück.
»Es ist besser, wenn Sie nicht mitkommen, Sean«, sagte er ernst. »Warten Sie hier auf uns. Wir finden die Wohnung schon.«
»Ich habe keine Angst«, sagte Sean, aber wieder ließ ihn Howard nicht zu Wort kommen.
»Das glaube ich Ihnen, Sean«, sagte er ernst. »Aber ich erlaube trotzdem nicht, daß Sie mitkommen. Sie haben gesehen, was mit Gordon passiert ist.«
»Sie denken doch nicht, daß das auf Tremayns Konto geht? Er und Gordon sind seit fünfzehn Jahren befreundet.«
Howard wies mit einer Kopfbewegung über die Straße. »Wenn es sich bei dem Buch, das da oben liegt, wirklich um das handelt, was ich befürchte, Sean, dann ist dieser Mann nicht mehr Tremayn«, sagte er ernst. »Sie bleiben hier, Sean. Außerdem brauchen wir jemanden, der uns den Rücken deckt.« Er sah sich mit übertriebener Gestik nach beiden Seiten um. »Diese Stille gefällt mir nicht. Wenn Sie uns schon helfen wollen, dann bleiben Sie hier, und halten Sie die Augen auf. Und wenn Sie irgend etwas Auffälliges bemerken, dann warnen Sie uns.«
Sean widersprach nicht mehr, und Howard drehte sich rasch um und begann, mit weit ausgreifenden Schritten die Straße zu überqueren. Rowlf und ich folgten ihm in geringem Abstand.
Das Haus ähnelte in seinem Inneren dem, in dem wir am vergangenen Abend gewesen waren, war aber größer und nicht ganz so heruntergekommen. Von dem schmalen, von muffiger Luft erfüllten Korridor zweigten eine Anzahl Türen ab, durch die Stimmen und Geräusche zu uns herausdrangen, aber Howard ignorierte sie, und steuerte zielstrebig die ausgetretene Holztreppe in die oberen Geschosse an.
Als wir den ersten Treppenabsatz erreichten, ging eine der Türen auf, und ein verschlafenes, schmales Gesicht blickte zu uns heraus.
»Was wollen Sie hier?« fragte der Mann unfreundlich.
»Wir suchen jemanden«, antwortete Howard.
»Und wen?«
»Einen ... Freund von uns«, erwiderte Howard zögernd. »Man sagte uns, er wohne in diesem Haus. Tremayn.«
»Tremayn?« Der Ausdruck des Mißtrauens auf dem Gesicht des Mannes verstärkte sich. »Der wohnt hier«, sagte er, »ganz oben, in der Dachkammer. Was wollen Sie von ihm?«
»Dat sagn wir ihm schon selbst«, knurrte Rowlf. Der Mann wollte widersprechen, besann sich aber - nach einem zweiten, etwas eingehenderen Blick auf Rowlfs hünenhafte Gestalt - eines anderen und zog sich hastig in seine Wohnung zurück. Howard deutete mit einer Kopfbewegung nach oben. »Weiter.«
Wir stürmten los, durchquerten einen weiteren, düsteren Korridor und erreichten schließlich nach einer weiteren Treppe das Dachgeschoß. Es gab kaum Licht, aber die Helligkeit reichte wenigstens aus, zu sehen, daß von dem niedrigen Gang nur eine einzige Tür abzweigte.
Howard hob warnend die Hand, legte den Zeigefinger über die Lippen und zog mit der anderen Hand den Revolver aus der Manteltasche. Auch Rowlf nahm seine Waffe zur Hand, nur ich zögerte noch. Normalerweise ist es ein beruhigendes Gefühl in einer Situation wie dieser das Gewicht einer Waffe in der Hand zu haben, aber in diesem Moment spürte ich einfach, daß uns die Waffen nichts nutzen würden, absolut nichts. Nichts gegen die Gefahren, die hinter dieser Tür auf uns lauern mochten.