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Behutsam löste er Rowlfs Arm von seiner Schulter, lehnte ihn halbwegs gegen die Wand und wies mit einer Kopfbewegung zur Straße. »Halt ihn einen Moment«, sagte er. »Ich sehe nach, ob die Straße frei ist.«

»Das hat doch keinen Sinn«, widersprach ich. »Wir schaffen es nicht, Howard. Und Rowlf auch nicht.«

Er schwieg. Sein Blick huschte besorgt über Rowlfs Gesicht, und ich sah einen Ausdruck von Mutlosigkeit in seinen Augen, der neu an ihm war. Ich hatte immer gedacht, daß es nichts gäbe, was diesen Mann wirklich erschüttern könnte. Aber das stimmte nicht.

»Wir brauchen Hilfe«, sagte ich, als Howard auch nach einer Weile noch keine Anstalten machte, mir zu antworten. »Einen Arzt. Oder wenigstens einen Wagen.«

Howard antwortete auch diesmal nicht, aber das war auch gar nicht nötig. Die Bewohner von Durness hielten uns für tot; viele von ihnen glaubten, uns mit eigenen Augen in den brennenden Fluten des Hafenbeckens umkommen gesehen zu haben, und das war auch gut so. Denn wenn sie auch nur vermuteten, daß wir noch am Leben waren, würde die Hexenjagd von vorne beginnen. Und eine Hexenjagd war es im wahrsten Sinne des Wortes. Die Männer und Frauen von Durness hielten uns - und wohl im besonderen mich - für Hexer, Diener des Satans. Das Unheil, das die entfesselten Kräfte des Necronomicons über die kleine Hafenstadt gebracht hatte, fiel auf uns zurück, und sie reagierten, wie Menschen seit Urzeiten auf alles reagiert hatten, was sie nicht verstanden und was sie ängstigte: mit Haß und Gewalt.

»Kein ... Arzt«, murmelte Rowlf. Er hatte meine Worte verstanden, aber es hatte eine Weile gedauert, bis er die Kraft gefunden hatte, darauf zu antworten. »Niemand darf ... uns sehen, Kleiner. Sie ... dürfen nicht wissen, daß wir ... noch leben.«

»Zumindest in deinem Fall kann sich das ganz schnell ändern, Rowlf«, antwortete ich ernst. »Der nächste Arzt dürfte in Bettyhill sein. Und das sind dreißig Meilen.«

»Robert hat recht«, stimmte Howard düster zu. »Das schaffst du nicht.«

»Dann laßt mich zurück«, antwortete Rowlf. Seine Stimme zitterte vor Schwäche, aber ich spürte, daß er seine Worte vollkommen ernst meinte.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, widersprach ich.

»Ich werde irgendwo Hilfe auftreiben. Wenn schon keinen Arzt, dann wenigstens einen Wagen.« Ich deutete mit einer zornigen Kopfbewegung auf die Straße hinaus. Der Widerschein des Großbrandes unten am Hafen ließ das feuchte Kopfsteinpflaster aufleuchten, als wäre es in Blut getaucht. »Irgend jemanden muß es doch in dieser verdammten Stadt geben, der seine fünf Sinne noch beisammen hat.«

»Und wen?« fragte Howard düster.

Diesmal blieb ich die Antwort schuldig. Die Wut, mit der uns diese Menschen verfolgten, war mit rationalen Gründen nicht mehr zu erklären. Sie waren verhext, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir kämpften gegen Kräfte, die jenseits aller Logik standen.

Mein Blick richtete sich instinktiv auf das großformatige, in schwarzes Leder gebundene Buch, das Howard unter dem linken Arm trug. Es sah so harmlos aus, so verdammt banal. Und doch war es schuld am Tod zahlloser Menschen - und unserer Lage.

Howard erschrak, als er meinen Blick bemerkte. Er sagte nichts, aber die Art, in der er die Hand auf den Buchrücken legte, drückte genug aus. Für einen kurzen Moment hatte ich wirklich mit dem Gedanken gespielt, die Kräfte des Necronomicons auszunutzen, um hier herauszukommen. Natürlich war das unmöglich. Dieses Buch war das Nonplusultra des Bösen. Wer an seiner Macht rührte, der mußte dafür bezahlen. Und wie schrecklich der Preis war, den es verlangte, hatte ich mit eigenen Augen gesehen ...

»Geht zurück«, sagte ich. »Ich werde versuchen, irgendwo einen Wagen zu stehlen.«

Howard schien widersprechen zu wollen, atmete aber dann bloß hörbar ein und nickte widerstrebend. Die wenigen Schritte, die wir Rowlf gestützt hatten, hatten ihm deutlicher als alle Erklärungen gezeigt, wie sinnlos unser Unterfangen war. Vielleicht - aber auch nur vielleicht - hätten wir es sogar geschafft, die wenigen Blocks bis zum Ortsausgang hinter uns zu bringen, ohne entdeckt zu werden. Aber die dreißig Meilen bis Bettyhill waren schon für einen gesunden, ausgeruhten Mann ein gewaltiger Spaziergang. Für uns - und vor allem für Rowlf - waren sie unüberbrückbar. Genausogut hätten wir versuchen können, nach London zu schwimmen.

»Versuch es«, sagte er schließlich. »Wir haben wohl keine andere Wahl.«

»Die habt ihr doch«, widersprach Rowlf. »Ihr beide könnt es schaffen, wenn ihr mich hierlaßt. Ich komme schon irgendwie durch.«

»Unsinn«, widersprach Howard. »Sobald sie das Feuer gelöscht haben, wird es hier wieder von Menschen wimmeln. Robert hat recht - entweder schaffen wir es alle, oder gar keiner.«

Rowff fuhr auf. »Aber das ist -«

»Das einzig Logische«, unterbrach ihn Howard. »Glaubst du, wir hätten eine Chance, wenn sie dich finden? Sie würden dich umbringen und dann anfangen, uns zu suchen. Nein, Rowlf - wir haben gar keine andere Wahl, als dich mitzunehmen.« Er sah mich an. »Geh. Wir warten hier. Aber gib acht, daß dich niemand sieht.«

Ich nickte, drehte mich ohne ein weiteres Wort um und trat mit gesenktem Kopf auf die Straße hinaus. Vom Hafen drang flackernder, rotgelber Lichtschein und das Raunen einer gewaltigen Menschenmenge herauf; Schreie, Lärmen, das Schrillen einer Glocke. Aber die Straße rechts und links von mir schien ausgestorben zu sein.

Während ich mit weit, ausgreifenden Schritten stadteinwärts ging, arbeiteten meine Gedanken auf Hochtouren. Mein Vorhaben war nicht halb so leicht, wie ich Howard Glauben hatte machen wollen. Durness war eine Stadt, kein kleines Bauerndorf, auf dem hinter jedem Haus ein Pferd bereitstand. Ich konnte kaum darauf hoffen, einfach so einen Wagen zu finden, der nur darauf wartete, von mir mitgenommen zu werden.

Aber vielleicht gab es doch jemanden, der uns half ...

Es war still hier, tief unter der Erde. Das Ding hatte den Fuß des Kreidefelsens erreicht und war aus der Brandung aufgetaucht wie Klumpen aus Dunkelheit und gestaltgewordener Furcht, ein schwarzer Dämon, der aus den Abgründen der Zeit und der Hölle emporgewachsen war und den Schrecken einer seit dreißig Millionen Generationen erloschenen Epoche mit sich brachte, formlos und zitternd wie eine ins Absurde vergrößerte Amöbe war es den schrundigen steilen Fels der Küste emporgeflossen, hatte ihre Kante erreicht und sich - nach einer Weile, als müsse es Kraft schöpfen, sich vielleicht auch orientieren, obwohl es über keine sichtbaren Sinnesorgane verfügte - nach Süden gewandt, mit den vereinten Instinkten des Jägers und des Gejagten den Schutz des nahen Waldes ansteuernd. Wo es entlanggekrochen war, war eine breite, glitzernde Spur aus nacktem Stein und trockenem, steril gewordenen Erdreich zurückgeblieben, eine Bahn des Todes, in der sich nicht einmal mehr mikroskopisches Leben regte; Erdreich, das wie von einer tödlichen Säure bis tief in den Boden hinein sterilisiert worden war.

Das Wesen war weitergekrochen, hatte mit schwarzschleimigen Fühlern hierhin und dorthin gegriffen, von Zeit zu Zeit verharrt und schließlich den Waldrand erreicht. Seine Arme hatten sich aufgespalten, waren zu zahllosen haarfeinen Tastern geworden, die gierig in alle Richtungen griffen und nach Leben suchten; Nahrung, die den Hunger von zweitausend Millionen Jahren nicht zu stillen vermochte. Eine breite, wie mit Feuer ausgebrannte Spur war im Wald zurückgeblieben, ein halbkreisförmiger, ausgefräster Tunnel, der den Weg markierte, den der Shoggote genommen hatte. Schließlich hatte er eine Lichtung erreicht und war wieder verharrt, hatte haarfeine Fühler in den Boden gesenkt und geduldig gesucht und geforscht, bis er gefunden hatte, was er brauchte: eine Höhle eine licht- und luftlose Blase, dreißig, vierzig Fuß unter dem Waldboden, vor Äonen durch eine Willkür der Natur entstanden. Trotz seiner gewaltigen Körpermasse hatte es ihm keine Schwierigkeiten bereitet, das Erdreich zu durchdringen: Sein Leib hatte sich in eine schwammige Gallertmasse verwandelt, die träge wie zähflüssiges Öl durch das Erdreich floß und sich tief unter dem Wald wieder zu der absurden Monstrosität vereinigte, als die es an Land gekrochen war.