Wieder war er lange und reglos liegengeblieben, eine scheinbar sinnlose Anhäufung schwarzer Zellen und hirn- und geistloser Protoplasma-Masse, die in regelmäßigen Abständen pulsierte. Dann, irgendwann nach Stunden, hatte er wieder Fühler ausgeschickt, Tastärmchen, hundertmal dünner als ein menschliches Haar, die das Erdreich im weiten Umkreis durchdrängen, und, unsichtbar für das menschliche Auge, damit begannen, ein gewaltiges unterirdisches Gewebe zu schaffen, ein Ding wie ein gigantisches Spinnennetz, in dessen Zentrum der riesige Shoggote saß. Er spürte das Leben, das ihn umgab, und wieder flammte die Gier in ihm auf, der Impuls, alles zu fressen und zu absorbieren, was er erreichen konnte, wie es seine Art war.
Und doch tat er es nicht. Seine Tentakel erreichten Baumwurzeln und Gras, vereinigten sich mit dem Geflecht der Pilze, das den Waldboden wie ein lebender Teppich durchdrang, und vereinigten sich mit ihm, um etwas Neues, Fürchterliches zu schaffen...
Es war dunkel geworden, während ich, wie ein Dieb von Tür zu Tür und von Schatten zu Schatten huschend, weiter stadteinwärts geeilt und schließlich nach Osten abgebogen war, statt der Hauptstraße zu folgen, die mich zum Hafen hinabgeführt hätte. Ich war einer Anzahl Menschen begegnet, aber niemand hatte Notiz von mir genommen. Die hereinbrechende Dunkelheit und der Brand am Hafen schützten mich, und Durness war, obgleich alles andere als eine Großstadt, so doch auch nicht so klein, daß sich seine Bewohner untereinander alle gekannt hätten. Trotzdem hatte ich mich gehütet, den Hut abzusetzen oder gar einem der Männer oder Frauen, die mir begegnet waren, direkt ins Gesicht zu blicken.
Ich war nicht sicher gewesen, ob ich das Haus wiederfinden würde, aber - so absurd es klang - die Dunkelheit half mir dabei. Es war dunkel gewesen, als ich das erste und einzige Mal hiergewesen war, und obwohl ich nicht einmal sonderlich auf den Weg geachtet hatte, hatte ich mir doch unbewußt den einen oder anderen markanten Punkt eingeprägt, und nach weniger als einer halben Stunde stand ich vor dem schäbigen Haus und sah mich fast angstvoll nach beiden Seiten um. Ich war jetzt näher am Hafen, und ab und zu, wenn sich der Wind drehte, konnte ich das Prasseln der Flammen und das Schreien und Rufen der Löschmannschaften hören. Die halbe Stadt mußte auf den Beinen sein, um das Feuer zu löschen, und so, wie es aussah, würden sie noch einen guten Teil der Nacht damit zu tun haben. Zeit genug für uns ...
Ich sah mich noch einmal sichernd nach allen Seiten um, schob dann die Tür mit einer entschlossenen Bewegung auf und trat gebückt ins Haus. Der Flur mit der steil nach oben führenden Holztreppe kam mir noch schäbiger und heruntergekommener vor als beim ersten Mal, und nach der kalten, vom Regen gereinigten Luft draußen hatte ich das Gefühl, hier drinnen kaum mehr Atem holen zu können. Ich schloß die Tür, zog den Hut noch ein wenig tiefer in die Stirn, für den Fall, daß mir unverhofft jemand entgegenkommen sollte, und eilte die Treppe hinauf.
Vor der schmalen Tür am Ende des Korridores blieb ich noch einmal stehen. Plötzlich fielen mir tausend Dinge ein, die schief gehen konnten, und für einen kurzen Moment war ich dicht davor, einfach kehrt zu machen und davonzulaufen, so schnell ich konnte. Irgendwo würde ich einen Wagen oder wenigstens ein Pferd auftreiben - wozu hatte ich den größten Teil meines Lebens unter Dieben und Halsabschneidern verbracht?
Aber ich tat es nicht. Es ging nicht nur darum, einen Wagen zu bekommen. Wir brauchten einfach Hilfe, wenn wir auch nur eine winzige Chance haben wollten. Statt dessen legte ich die Hand auf die Türklinke, lauschte einen Moment und drückte sie entschlossen herunter und betrat das dahinterliegende Zimmer.
Miß Winden war allein mit ihrer Tochter, wie ich gehofft hatte. Sie saß, leicht nach vorne gebeugt und ein sauberes Tuch in der Hand, mit dem sie offenbar die Stirn ihrer Tochter befeuchtet hatte, auf der Kante von Sallys Bett. Als ich die Tür öffnete, drehte sie sich ohne sonderliche Hast herum, sah auf - und erstarrte.
Ich war mit einem einzigen Satz bei ihr. Als der Schrecken von ihr abfiel und sie den Mund öffnete, um zu schreien, riß ich sie unsanft hoch, preßte ihr die Hand auf den Mund und hielt sie mit der anderen fest. »Bitte«, sagte ich hastig. »Schreien Sie nicht, Miß Winden. Ich tue Ihnen nichts!«
Einen Moment lang wehrte sie sich mit verzweifelter Kraft, aber ihr Widerstand erlahmte so schnell, wie er aufgeflammt war. Ihre Augen weiteten sich. Der Ausdruck des Schreckens, der bei meinem Eintreten darin erschienen war, wandelte sich plötzlich in Furcht, dann in Grauen. Ich lockerte meinen Griff ein wenig, preßte die Hand jedoch weiter auf ihre Lippen.
»Versprechen Sie mir, nicht zu schreien«, sagte ich hastig. »Ich bitte Sie, Miß Winden. Alles, was ich will, ist, daß Sie mir einen Moment zuhören.«
Sie nickte, aber ich ließ noch immer nicht los. »Versprechen Sie mir, nicht zu schreien?« fragte ich noch einmal. Diesmal dauerte es länger, ehe sie reagierte: mit einem Schließen der Augen, das ich als Nicken deutete. Langsam nahm ich die Hand herunter und ließ gleichzeitig - wenn auch noch immer gespannt und bereit, jederzeit wieder zuzupacken - ihr Handgelenk los.
Die dunkelhaarige Frau prallte mit einem nur halb unterdrückten Schluchzen zurück, bis ihre Kniekehlen gegen das Bett des Mädchens stießen, schlug die Hand vor den Mund und starrte mich aus schreckgeweiteten Augen an. »Was ... was wollen Sie?« keuchte sie. »Was wollen Sie hier?«
»Ihre Hilfe«, antwortete ich. »Wir brauchen Ihre Hilfe, Miß Winden.«
»Meine ...« Sie stockte, starrte hilfesuchend an mir vorbei zu der offenen Tür in meinem Rücken und rang hilflos mit den Händen. »Wieso sind Sie hier?« stammelte sie. »Wieso leben Sie noch. Ich dachte, Sie ... Sie sind ...«
»Tot?« Ich schüttelte den Kopf, drehte mich um und schloß die Tür. »Das denken alle, Miß Winden, aber es stimmt nicht. Wir konnten uns retten. Aber wir brauchen Hilfe.«
»Hilfe? Von mir?« Ihre Worte klangen fast wie ein Schrei. Sie schüttelte den Kopf, so heftig, daß ihre Haare flogen. »Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen. Gehen Sie. Gehen Sie weg. Ich bin nur eine hilflose Frau. Ich kann Ihnen nicht helfen. Und ich will es auch nicht.«
Ich starrte sie einen Moment an, ging wieder zu ihr hinüber und näherte mich dem Bett mit dem schlafenden Mädchen. Als ich zwei Schritte davon entfernt war, vertrat mir Miß Winden den Weg. Sie zitterte vor Angst, aber der Impuls, ihre Tochter zu schützen, war stärker. Ich blieb stehen und blickte über ihre Schulter hinweg auf das reglos daliegende Mädchen herab. Sallys Gesicht war so blaß und eingefallen wie am Vorabend, und ihr Atem ging noch immer stoßweise und unruhig, aber es war jetzt nur noch das Fieber, mit dem sie rang.
»Sie sind es uns schuldig, Miß Winden«, sagte ich leise.
Sie fuhr zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Ihre Lippen zuckten, und ihr Blick wanderte unstet zwischen dem bleichen Antlitz ihrer Tochter und meinem Gesicht hin und her. Sie schwieg.
»Sie sind es uns schuldig, Miß Winden«, sagte ich noch einmal. »Ohne Howards Hilfe wäre Ihre Tochter jetzt tot. Nun brauchen wir Ihre Hilfe.« Ich kam mir bei diesen Worten so abscheulich und gemein vor wie noch nie zuvor in meinem Leben, und ich sah, wie sie unter jeder einzelnen Silbe wie unter einem Hieb zusammenfuhr. Aber es mußte sein. Ich hatte keine Wahl, wenn ich Rowlfs Leben retten wollte.