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Aber das war es nicht. Wir hatten niemanden gesehen, seit wir das Haus verlassen hatten, aber die Stimmen und Schritte Dutzender Menschen gehört, und die ersten drei-, vierhundert Yards waren zu einem wahren Spießrutenlauf geworden. Priscylla hatte uns durch Seitenstraßen und Hinterhöfe geführt, auf Wegen, die ein nicht Einheimischer wahrscheinlich in hundert Jahren nicht gefunden hätte. Wir waren von Schatten zu Schatten gehuscht wie Verbrecher, hatten uns immer wieder mit angehaltenem Atem hinter Hausecken oder in Türen geduckt und für die erste halbe Meile fast eine Stunde gebraucht. Mein Herz hämmerte noch immer, und obwohl die unmittelbare Gefahr vorüber war - oder vielleicht auch gerade deshalb -, zitterten meine Hände.

Irgend etwas ging in der Stadt vor. Den Geräuschen nach zu urteilen, die wir gehört hatten, mußte die gesamte Bevölkerung Goldspies auf den Beinen sein, obwohl es hart auf Mitternacht zuging, und ihr Ziel war der Marktplatz im Zentrum der Stadt.

Hinter uns, dachte ich mit einer Spur von Erleichterung. Je weiter wir uns dem Stadtrand genähert hatten, desto weniger Menschen hatten wir gehört. Jetzt waren die Straßen so leer, daß wir es wagen konnten, ein wenig offener vorzugehen und die Bürgersteige zu benutzen, wenngleich wir uns weiterhin immer im Schatten der Häuser hielten. Priscylla hatte Bannermann und mir dunkle Mäntel ähnlich dem ihren gegeben, die wir über unsere Kleidung geworfen hatten, aber weder Bannermann noch ich rechneten ernsthaft damit, daß diese Tarnung mehr als einem flüchtigen Blick standhalten würde. Allein die Tatsache, daß wir uns nicht zum Stadtzentrum hin bewegten, mußte uns verdächtig machen. Wenn wir auch nur einem Menschen begegneten, waren wir verloren.

Priscylla blieb plötzlich stehen, hob die Hand und lauschte einen Moment mit geschlossenen Augen.

»Was ist?« fragte Bannermann besorgt.

Priscylla brachte ihn mit einer unwilligen Geste zum Schweigen, schloß für zwei, drei Sekunden die Augen und fuhr mit einer abrupten Bewegung herum.

»Jemand kommt!« sagte sie. »Schnell, weg hier!« Sie deutete auf eine Toreinfahrt, die wir vor wenigen Augenblicken passiert hatten, warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück und rannte los. Bannermann und ich folgten ihr. Unsere Schritte verursachten harte, klackende Echos auf dem harten Straßenpflaster, und für einen Moment bildete ich mir ein, der Lärm müßte bis zum anderen Ende der Stadt zu hören sein. Aber es waren nur wenige Schritte, und die Toreinfahrt war dunkel und groß genug, uns genügend Deckung zu geben. Hastig duckten wir uns neben Priscyalla in den Schatten des künstlichen Gewölbes.

Nach einer Weile hörte ich ebenfalls Schritte. Schnelle, schwere Schritte; die Schritte von Menschen, die es sehr eilig hatten. Ich strengte mich an, in der blaugrauen Dämmerung jenseits des Tores etwas zu erkennen, konnte aber nicht viel mehr als ein paar gedrungene, rasch ausschreitende Schatten wahrnehmen, die auf der anderen Straßenseite an unserem Versteck vorübergingen.

Mit angehaltenem Atem wartete ich, bis sie vorbei waren und ihre Schritte wieder in der Nacht verklangen.

Ein dumpfer, einzelner Trommelschlag wehte vom anderen Ende der Stadt zu uns herüber.

»Was war das?« flüsterte Bannermann.

Priscylla sah ihn an, schüttelte irritiert den Kopf und stand auf. »Nichts«, sagte sie. »Nichts Wichtiges.«

Bannermann knurrte, streckte blitzschnell die Hand aus und riß sie unsanft am Arm zurück. »Einen Moment, Kindchen«, murmelte er. »Bevor wir weitergehen, möchte ich ein paar Antworten von dir.«

Priscylla versuchte ihren Arm loszureißen, aber Bannermann hielt sie unbarmherzig fest. Sein Griff mußte ihr weh tun, und für einen winzigen Moment spürte ich ein Gefühl irrationalen Zornes in mir aufsteigen. Priscylla warf mir einen hilfesuchenden Blick zu.

»Sie tun ihr weh, Bannermann«, sagte ich, etwas lauter, als in unserer Lage vielleicht gut war.

Bannermann knurrte etwas, das ich nicht verstand, lockerte aber seinen Griff um Priscyllas Handgelenk, ohne sie jedoch ganz loszulassen. Ich sagte nichts mehr. Alles, was ich wollte, war, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, aber ich konnte Bannermann auch verstehen. Seit wir das Haus verlassen hatten, hatten wir praktisch kein Wort mehr miteinander gesprochen. Und er spürte so deutlich wie ich, daß in dieser Stadt irgend etwas vorging.

»Lassen Sie mich los, Captain«, sagte Priscylla flehend. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Eine Gelegenheit wie diese bekommen wir nie wieder.«

»Eine Gelegenheit?« hakte Bannermann nach. »Was für eine Gelegenheit?«

Ein Schatten huschte über Priscyllas Gesicht. Sie sah aus wie jemand, dem eine Bemerkung herausgerutscht war, die er lieber nicht gemacht hätte. »Von hier zu verschwinden«, sagte sie ausweichend. »Sie sind alle beschäftigt. Mit etwas Glück merken sie erst bei Sonnenaufgang, daß wir weg sind.«

»Beschäftigt?« fragte Bannermann lauernd. »Womit beschäftigt?«

Ein zweiter, etwas lauterer Paukenschlag durchbrach das Schweigen der Nacht, und für einen ganz kurzen Moment glaubte ich, einen schrillen, trompetenden Laut sehr, sehr weit entfernt zu hören. Wie eine Antwort ...

Priscylla atmete hörbar ein und versuchte erneut, ihren Arm aus Bannermanns Griff zu befreien. Ihr Blick wurde flehend, und ich spürte einen dünnen, schmerzhaften Stich in der Brust. Es war seltsam - ich kannte dieses Mädchen erst seit wenigen Stunden, aber sie war mir so vertraut, als wären es Jahre. Es schmerzte mich, zuzusehen, wie ihr jemand wehtat. Trotzdem senkte ich nur den Kopf und wich ihrem Blick aus.

»Sie versammeln sich«, sagte Bannermann. »Nicht wahr? Sie gehen alle zum Marktplatz hinunter, oder nicht?« Er deutete in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Über den Dächern im Zentrum der Stadt loderte roter Widerschein. Sie mußten Feuer entzündet haben. Sehr viele Feuer.

Priscylla nickte abgehackt. »Ja.«

»Und wozu?« fragte Bannermann. »Wozu ist diese Trommel? Und diese Feuer? Wozu dienen sie?«

»Ich ... ich weiß es nicht«, stammelte Priscylla.

»Du lügst!« Bannermann verdrehte ihren Arm; nur eine Winzigkeit, gerade genug, ihr ein wenig weh zu tun und zu zeigen, daß er sich nicht weiter mit Ausreden abspeisen lassen würde. Meine Hände zuckten. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre aufgesprungen und hätte auf ihn eingeschlagen.

»Ich ... bin mir nicht sicher«, keuchte Priscylla. »Es ist... die ... die Trommel ruft die ... die Bestie. Aber es ist... unmöglich. Vollmond ist vorbei, und ...«

»Aber vielleicht haben sie neue Opfer für sie«, knurrte Bannermann. »So ist es doch, nicht wahr? Sie rufen das Ungeheuer, um ihm ein Opfer zu bringen. Oder mehrere.«

Priscylla antwortete nicht mehr, sondern bäumte sich jetzt mit aller Kraft gegen seinen Griff auf. Bannermann packte etwas fester zu, ließ aber los, als ich herumfuhr und ihn grob an der Schulter herumriß.

»Lassen Sie sie los, Bannermann!« zischte ich. »Niemand hat etwas davon, wenn Sie ihr weh tun.«

Bannermann ließ Priscyllas Gelenk los, schlug meine Hand mit einer wütenden Bewegung zur Seite und funkelte mich an. »Ach?« schnappte er. »Niemand hat etwas davon? Sind Sie eigentlich blind, Craven, oder nur verrückt vor Angst?«

»Was ... worauf wollen Sie hinaus?« fragte ich verwirrt. Priscylla war ein paar Schritte zurückgewichen und hatte sich angstvoll gegen die Wand gepreßt. Ihr Blick wanderte zwischen Bannermann und mir hin und her.

»Worauf ich hinaus will?« wiederholte Bannermann. Er gab sich jetzt keine Mühe mehr, leise zu sein, sondern schrie fast. »Auf etwas, was ich schon die ganze Zeit vermutet habe, Sie Narr. Was glauben Sie, warum wir so leicht entkommen können, wenn die Stadt doch angeblich eine einzige große Falle ist?«