»Weil ... weil sie ...«
»Beschäftigt sind«, unterbrach mich Bannermann. »Ja. Und soll ich Ihnen sagen, womit? Sie opfern wieder Menschen. Sie bringen diesem Ungeheuer Menschenopfer dar. Deshalb nimmt niemand Notiz von uns, Craven. Weil sie uns im Moment nicht brauchen.«
»Das stimmt nicht!« sagte ich impulsiv. »Das ...«
»Und ich will Ihnen auch sagen, wen sie opfern«, fuhr Bannermann fort. Seine Stimme zitterte vor Erregung, »Meine Männer. Deshalb wollte sie nicht, daß wir zum Strand hinuntergehen und uns mit ihnen treffen, Craven. Weil sie ganz genau wußte, was geschehen wird. Wenigstens hat sie es gehofft. Sie opfert meine Männer, damit wir entkommen können!«
»Das stimmt nicht«, behauptete ich. »Das ...«
»Dann fragen Sie doch dieses kleine Flittchen!« brüllte Bannermann.
Ich schlug ihn. Ich weiß nicht, wer überraschter war - er oder ich. Meine Hand schien sich fast ohne mein Zutun zur Faust zu ballen und auf sein Gesicht zu zielen. Bannermann taumelte, prallte unsanft gegen die Wand und hob die Fäuste. Aber er schlug nicht zurück, sondern starrte mich nur voller Verachtung an.
»Ist Ihnen jetzt wohler?« fragte er ruhig.
»Ich ... verzeihen Sie«, stammelte ich. »Ich wollte das nicht.«
Bannermann lächelte kalt. »Schon gut. Ich hätte das nicht sagen sollen. Aber ich habe trotzdem recht - oder?«
Das letzte Wort war an Priscylla gerichtet gewesen. Das Mädchen starrte ihn an, schluckte ein paarmal und wandte den Kopf, um seinem Blick auszuweichen. Ihre Lippen zitterten.
Mit einem raschen Schritt trat ich auf sie zu, legte die Hand unter ihr Kinn und zwang sie, mich anzusehen. »Ist das wahr?« fragte ich.
Ihre Augen schimmerten feucht, als sie mich ansah. »Ja«, flüsterte sie. »Sie ... rufen die Bestie nur, wenn ... wenn sie ein Opfer für sie haben.«
»Aber du hast mir doch gesagt, daß sie es nur bei Vollmond tun«, sagte ich ungläubig.
Bannermann schnaubte. »Es ist Vollmond, Craven, wenigstens fast. Außerdem wird sich Donhill ein so prächtiges zusätzliches Opfer kaum entgehen lassen.«
»Das ist nicht wahr«, murmelte ich. »Sag ihm, daß das nicht wahr ist, Priscylla.«
Priscylla schluckte. Ihre Hände glitten mit kleinen nervösen Bewegungen an meiner Brust empor, tasteten über meine Schulter und suchten die meinen. Ich zuckte schmerzhaft zusammen. Meine verbrannten Finger taten noch immer weh, und der Fausthieb, den ich Bannermann versetzt hatte, hatte die Wunden wieder aufbrechen lassen. Unter meinen Fingernägeln sickerte Blut hervor und hinterließ dunkle Flecke auf ihrem Umhang.
»Es ist wahr«, flüsterte sie.
»Und du hast es gewußt?«
Sie nickte. »Ja. Ich ... habe zwei von Donhills Helfern belauscht, als ich vorhin draußen war, um ... die Kleider für euch zu beschaffen«, sagte sie stockend. »Aber es war die einzige Chance, Robert, versteh mich doch.«
»Chance?« fragte Bannermann wütend. »Für wen? Du wolltest mit dem Leben meiner Männer für deine Freiheit bezahlen.«
»Und auch für unsere, Bannermann«, sagte ich grob. »Halten Sie endlich den Mund.«
»Er hat recht«, sagte Priscylla leise. Ihre Stimme schwankte. Sie begann zu weinen. »Ich ... ich muß hier weg, Robert«, wimmerte sie. »Und es gibt nur diese eine Möglichkeit. Während einer Opferfeier sind alle unten am Fluß, selbst die Wachen. Wir wären niemals so weit gekommen, wenn es nicht so wäre.«
»Und wir werden auch nicht weiterkommen«, sagte Bannermann wütend.
Ich ließ Priscyllas Schulter los, drehte mich um und sah ihn nachdenklich an. »Sie wollen zurückgehen?«
»Sie nicht?«
»Aber das ist Selbstmord!« begehrte Priscylla auf. »Sie können überhaupt nichts tun! Die ganze Stadt ist dort unten. Sie werden Sie und Robert umbringen.«
»Ich lasse meine Männer nicht im Stich«, antwortete Bannermann wütend. »Und ich sehe erst recht nicht tatenlos zu, wie sie irgendeinem Seeungeheuer geopfert werden. Ihr beiden könnt von mir aus verschwinden, aber ich gehe zurück.« Er fuhr herum und wollte auf der Stelle losstürmen, aber ich hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.
»Lassen Sie mich los, Craven!« sagte er wütend. »Sie müssen nicht mitkommen.«
»Natürlich komme ich mit«, antwortete ich leise. »Aber wir können nicht blind losstürmen. In einem Punkt hat Priscylla nämlich recht, Captain - sie werden uns schneller umbringen, als Sie sich träumen lassen, wenn wir blind dorthin rennen.«
Bannermann preßte wütend die Lippen aufeinander, nickte aber dann widerwillig. »Und was haben Sie vor?«
Ich schwieg einen Moment, drehte mich wieder um und sah Priscylla an. »Erklär uns genau, wie es dort aussieht«, sagte ich. »Gibt es eine Möglichkeit, ungesehen auf den Platz zu kommen?«
Priscylla schüttelte erschrocken den Kopf. »Du kannst nicht zurück!« keuchte sie. »Sie werden dich töten, Robert.«
»Vielleicht«, antwortete ich ernst. »Aber Bannermann hat recht - wir können die Männer nicht einfach im Stich lassen.«
»Aber was sollen wir denn tun? Donhill hat Dutzende von Männern, die ihm gehorchen. Wir haben keine Chance gegen sie.«
»Ich rede auch nicht von uns«, sagte ich betont. »Bannermann und ich gehen allein. Du gehst allein weiter. Wenn du dich beeilst, erreichst du noch vor Sonnenaufgang die Straße. Vielleicht nimmt dich ein Wagen mit.«
»Ich gehe nicht allein«, sagte Priscylla. »Sie würden mich wieder einfangen, wie die anderen Male.« Plötzlich warf sie sich an meine Brust und schlang verzweifelt die Arme um meinen Hals, so fest, daß sie mir fast die Luft abschnürte. »Geh nicht zurück, Robert!« flehte sie. »Sie werden dich töten! Es haben schon andere vor dir versucht, aber niemand ist der Bestie gewachsen.«
Behutsam löste ich ihre Hände von meinem Nacken, schob sie auf Armeslänge von mir und versuchte zu lächeln. »Die anderen hatten vielleicht nicht die gleichen Möglichkeiten wie ich«, sagte ich leise. »Du hast gesehen, was geschah, als der Unsichtbare uns angegriffen hat. Ich habe Mittel und Wege, mich zu wehren, über die Donhill nichts weiß.«
»Aber das war etwas anderes!« sagte Priscylla verzweifelt. »Du hast es selbst gesagt - es waren nicht deine Kräfte, die dieses Wesen besiegten. Woher willst du wissen, daß sie dir wieder helfen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand ich. »Ich kann nur hoffen, daß mir mein Vater auch diesmal hilft.«
»Und wenn er es nicht tut?«
»Dann«, antwortete ich nach einer winzigen Pause, »sterben wir alle, Priscylla.«
Es war noch dunkler geworden, während wir zum Stadtzentrum zurückgegangen waren. Die Wolken hingen wie eine kompakte Wand über dem Ort und verschluckten das Licht von Mond und Sternen vollends. Trotzdem war der halbrunde, an einer Seite abgeflachte Platz im Herzen der Stadt beinahe taghell erleuchtet. Ein Kreis mannshoher, hellauf brennender Holzstapel war rings um den ungepflasterten Platz errichtet worden, und ein Großteil der Männer und Frauen, die sich in seinem Inneren aufhielten, trugen blakende Fackeln, deren Licht die Nacht mit flackender roter Glut erhellten.
Es war ein bizarrer Anblick. Es mußten drei-, wenn nicht vierhundert Menschen sein, die sich auf dem Marktplatz versammelt hatten, viel mehr, als ich überhaupt geglaubt hatte, daß Goldspie Einwohner hatte; Männer, Frauen, ja, selbst Kinder. Sie waren fast alle einheitlich gekleidet, in die gleichen, einfachen braunen Umhänge, wie auch Priscylla und wir sie trugen. Ihre Gesichter waren unter den hochgeschlagenen Kapuzen nicht zu erkennen. Und trotzdem spürte ich die Furcht, die wie eine erstickende unsichtbare Wolke über dem Platz hing. Diese Menschen waren nicht aus freiem Willen hier, sondern weil man sie dazu gezwungen hatte.