Jetzt würden sie ihn umbringen.
»Ich ... ich habe Geld«, sagte er stockend. Seine Zunge huschte wie ein kleines, nervöses Wesen über seine Lippen. Verzweifelt sah er sich nach einem Fluchtweg um. Aber es gab keinen. Und der Bursche war gewarnt und würde sich kein zweites Mal überrumpeln lassen. Andrew zweifelte keine Sekunde daran, daß er sein Messer zwischen den Rippen spüren würde, wenn er auch nur versuchte, aufzustehen.
»Geld?« wiederholte der Bursche. In seinen Augen blitzte es gierig auf.
Andrew nickte, griff in seine Brusttasche und zog seine Geldbörse hervor. Der Bursche riß sie ihm aus der Hand und steckte sie ein, ohne auch nur hineinzusehen. Das Lächeln auf seinen Zügen wurde breiter.
»Aber das nutzt dir auch nichts, Kleiner«, sagte er böse.
»Ich ... ich habe noch mehr«, stammelte Andrew. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Sein Herz hämmerte, als wolle es zerspringen. »Im Hotel. Ich ...«
»Sinnlos, Kleiner«, sagte der Bursche. »Gleich ist Freddy hier, und ich glaube, der will was ganz anderes von dir als Geld. Du -«
Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Wie aus dem Boden gewachsen erschien eine schwarze, breitschultrige Gestalt hinter ihm. Etwas Dunkles, Schweres zischte durch die Luft, traf den Hinterkopf des Straßenräubers und ließ ihn mit einem erstickten Keuchen nach vorne kippen. Es ging alles so schnell, daß Andrew gar nicht richtig mitbekam, was überhaupt geschah.
Eine harte, schwielige Hand zerrte ihn auf die Füße. »Schnell«, sagte eine Stimme. »Wir müssen weg hier, ehe die anderen da sind.«
Verwirrt stolperte Andrew hinter seinem Retter her. Das Gesicht des Mannes war hinter einem tief in die Stirn gezogenen Hut verborgen, und das Schwarz seiner Kleidung schien selbst das bißchen Licht, das die Straße in ein Durcheinander von Grautönen und Schatten tauchte, aufzusaugen. Aber als der Fremde ihn hochzog, spürte Andrew, wie stark er war.
Am Ende der Straße stand eine zweispännige Kutsche. Sein Retter deutete stumm auf die offenstehende Tür, schwang sich ohne einen weiteren Laut auf den Bock und griff nach seiner Peitsche. Andrew griff mit zitternden Fingern nach der Tür, zog sich mit einer letzten Kraftanstrengung hoch und warf sich gebückt in das Fahrzeug.
Die Kutsche fuhr los, noch ehe er die Tür vollends hinter sich zugezogen hatte.
»Sind Sie völlig sicher, daß das die richtige Adresse ist?« Die Stimme des Kutschers sagte eine ganze Menge mehr als seine Worte, und als ich mich vorbeugte und den schmuddeligen Vorhang, der verhinderte, daß man von außen in den Zweispänner hineinsehen konnte, beiseite schob, verstand ich ihn um einiges besser als vorhin, als ich ihm die Adresse genannt und ein zweifelndes Stirnrunzeln als Antwort bekommen hatte.
»Wenn das hier die Pension WESTMINSTER ist, dann ja«, antwortete ich zögernd.
Der Kutscher nickte. Er war ein großer, vierschrötiger Kerl, der in der schwarzen Kutscherlivree eher lächerlich wirkte, aber er hatte ein gutes Gesicht und offene Augen. Ich gebe viel um Augen. Gesichter können täuschen, Augen nicht. »Das ist sie. Und Sie sind sicher, Sir, daß Ihr Freund hier wohnt?«
»Gibt es vielleicht noch eine Pension WESTMINSTER?« fragte ich unsicher.
Der Kutscher schüttelte den Kopf, schob seinen schwarzen Zylinder in den Nacken und kratzte sich mit der linken Hand am Schädel. »Nein«, sagte er. »Es gibt ein Hotel gleichen Namens, drüben im Westen, aber sonst ...« Er zuckte mit den Achseln und zog eine Grimasse, die mehr als alle Worte aussagte.
Ich versuchte erneut zu lächeln, aber es gelang mir nicht wirklich. Was das Hotel WESTMINSTER anging - dort war ich schon gewesen, vor drei Tagen, gleich nach meiner Ankunft in London. Ich hatte sogar ein Zimmer dort, obwohl ich mir im Grunde ein so feudales und kostspieliges Etablissement gar nicht leisten konnte.
Nur Howard, den geheimnisvollen Howard, zu dem mich mein Vater geschickt hatte, hatte ich im WESTMINSTER nicht gefunden. Während der letzten drei Tage hatte ich praktisch nichts anderes getan, als nach ihm zu suchen.
Wenigstens hatte ich es versucht. Aber einen Mann, von dem man nichts als den wahrlich nicht originellen Namen Howard kannte, in einer Millionenstadt wie London finden zu wollen, war ein Unterfangen, das dicht an Wahnsinn grenzte. Ich war nahe daran gewesen, aufzugeben, als ich endlich von einem der stets hilfsbereiten Londoner Bobbys erfuhr, daß es außer dem Hotel WESTMINSTER auch noch diese Pension gleichen Namens gab.
Allerdings hörten die Ähnlichkeiten wirklich mit dem letzten Buchstaben des Namens auf. Die Pension lag in einer Straße, die selbst in den New Yorker Slums, in denen ich vor einem halben Jahr noch gelebt hatte, als schäbig gegolten hätte.
Von den zwei Dutzend Gaslaternen, die die schmale, kopfsteingepflasterte Straße säumten, brannte nicht einmal ein Viertel. Und das, was ihr trüber Schein aus der Dunkelheit riß, war auch nicht gerade erhebend. Überall lagen Abfälle und Unrat, und die dunklen Umrisse überquellender Abfalltonnen hoben sich schwach gegen die nackten Ziegelsteinmauern der Häuser ab. Die wenigen Fenster, die ich sehen konnte, waren ausnahmslos mit Läden verschlossen oder schlicht und einfach vernagelt, und ab und zu sah man ein rasches Huschen oder hörte ein Quieken und das Trappeln winziger harter Pfoten. Ratten. Die einzigen Lebewesen, die sich in einer Gegend wie dieser nach Dunkelwerden noch auf die Straße wagten. Selbst hier in der Kutsche roch es bereits durchdringend nach Fäulnis und Abfällen, obwohl wir erst seit wenigen Augenblicken am Straßenrand standen.
Und was die Pension betraf ... Erkenntlich war sie nur an einem handgemalten, lieblos angenagelten Schild und einer trüben Gaslampe mit gesprungenem Schirm über der Tür. Auch ihre Fenster waren verschlossen, und nur durch die Ritzen eines Ladens schimmerte Licht.
»Vielleicht warten Sie einen Moment hier«, sagte ich, während ich die Tür der Kutsche öffnete und ausstieg. »Wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin, können Sie fahren.« Ich griff in die Weste, nahm eine zusammengerollte Fünf-Pfund-Note heraus und hielt sie dem Kutscher hin, aber zu meiner Überraschung schüttelte der Mann nur den Kopf.
»Tut mir leid, Sir«, sagte er. »Die Fahrt hierher kostet ein Pfund, und sobald Sie dort drinnen sind« - er deutete auf die zerschrammte Tür der Pension - »verschwinden meine alte Beth und ich von hier. Wir sind nämlich nicht lebensmüde, wissen Sie?«
Ich seufzte enttäuscht, versuchte aber nicht noch einmal, ihn zum Warten zu überreden, sondern reichte ihm schweigend ein Pfund und ging rasch auf das Haus zu. Ich konnte den Mann nur zu gut verstehen. Vor ihm hatten sich drei andere Kutscher glatt geweigert, mich überhaupt hierher zu fahren.
Trotzdem ertappte ich mich dabei, nervös nach dem Stockdegen zu greifen, den ich unter dem Mantel trug. Ich spürte einfach, daß ich nicht allein auf der Straße war. Immerhin hatte ich lange genug in einer Gegend wie dieser gelebt, um einfach zu wissen, wann ich beobachtet wurde.
Meine Hände zitterten leicht, als ich anklopfte. Die Schläge hallten dumpf durch das Haus, und ich konnte hören, wie irgendwo im Inneren des Hauses eine Tür aufgestoßen wurde und schlurfende Schritte näherkamen.
Ich drehte mich halb um und bedeutete dem Kutscher mit Gesten, noch einen Moment zu warten. Der Mann nickte und begann nervös mit seiner Peitsche zu spielen. Auf der anderen Seite der Straße bewegten sich Schatten.
Die Tür wurde lautstark entriegelt, öffnete sich jedoch nur wenige Zentimeter, ehe sie von einer vorgelegten Kette gesperrt wurde. Ein Paar dunkler, noch halb im Schlaf verschleierter Augen blickten mißtrauisch zu mir heraus. »Wat gibts?«
Die Begrüßung war nicht gerade freundlich, aber ich schluckte die scharfe Entgegnung, die mir auf der Zunge lag, herunter, trat höflich einen halben Schritt zurück und deutete eine Verbeugung an. »Guten Abend, Sir«, sagte ich steif. »Ich ... suche einen Ihrer Gäste. Wenn Sie vielleicht so freundlich wären -«