Ich leerte das Glas, stellte es behutsam auf den Tisch zurück und stand auf, um mich gründlicher umzusehen.
Die Bücher auf den Regalbrettern erregten meine besondere Neugier. Ich hatte mich nie sonderlich für Bücher interessiert, aber seit ich vor einem halben Jahr meinen Vater wiedergefunden hatte - ohne dies indes damals schon zu ahnen -, hatte sich ohnehin viel in meinem Leben geändert. Wenn nicht alles.
Ich kam nicht dazu, die Bände genauer in Augenschein zu nehmen. Ich war kaum an das Regal herangetreten und hatte einen der Bände zur Hand genommen, als die Tür hinter meinem Rücken erneut geöffnet wurde und ich Schritte hörte. Mit einer fast schuldbewußten Bewegung wandte ich mich um und sah dem Neuankömmling entgegen.
Es war ein Mann. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein - vielleicht etwas jünger -, war schlank und hatte ein schmales, beinahe asketisch geschnittenes Gesicht. Sein Haaransatz war im Laufe der Jahre vor dem Ansturm zweier mächtiger Geheimratsecken zurückgewichen, und auf seinen Wangen lagen Schatten, als hätte er eine schwere Krankheit hinter sich. Sein Mund war klein und spitz, und er hatte schlanke, nervöse Hände, die niemals wirklich ruhig zu sein schienen.
Sekundenlang musterten wir uns gegenseitig, und das Ergebnis unserer Betrachtungen schien uns beiden nicht zu gefallen.
Howard war schließlich der erste, der das Schweigen brach. Er räusperte sich, drückte die Tür hinter sich mit einer heftigen, fast übertrieben schnellen Geste ins Schloß und kam mit raschen Schritten auf mich zu. Später sollte ich noch merken, daß alles, was er tat, schnell und übertrieben heftig geschah. Jetzt verwirrte mich seine scheinbar sinnlose Hast.
Zwei Schritte vor mir blieb er stehen, musterte mich noch einmal und deutete mit einer knappen Geste auf den Tisch, an dem ich zuvor schon gesessen hatte. »Nehmen Sie Platz, junger Mann«, sagte er abgehackt. »Es redet sich besser im Sitzen.«
Ich wollte widersprechen, aber irgend etwas hielt mich davon ab. Howard war auf schwer zu beschreibende Art wie das Haus, in dem er lebte: unheimlich und düster.
»Rowlf sagte mir, Sie hätten den Namen meines alten Freundes Roderick Andara erwähnt«, begann Howard, nachdem er sein Glas herumgedreht und sich eingeschenkt hatte, ohne allerdings zu trinken.
»Rowlf?«
»Mein dienstbarer Geist, ja«, nickte Howard. »Er führt das Haus, holt ein, wimmelt lästige Besucher ab« - er lächelte flüchtig, wobei seine Augen jedoch völlig kalt blieben - »und tut auch sonst alles für mich. Ich wüßte wirklich nicht, was ich ohne ihn täte.« Er seufzte, lehnte sich zurück und starrte mich durchdringend an. »Aber wir kommen vom Thema ab, Mister ... wie war doch gleich Ihr Name?«
»Craven«, antwortete ich. »Robert Craven.«
»Robert Craven?« Die Art, in der Howard meinen Namen aussprach, sagte mir mit aller Deutlichkeit, daß er ihn hier und jetzt nicht zum ersten Mal hörte.
Ich nickte. »Ich sehe, mein Vater hat Ihnen schon von mir erzählt«, sagte ich. »Das erleichtert die Angelegenheit erheblich.«
Howard nickte. Von seiner kühlen, herablassenden Art war nichts mehr geblieben. Er wirkte verstört; ein Mann, der gründlich aus dem Konzept gebracht worden war und jetzt nicht wußte, wie er reagieren muß. »Sie wissen, daß ... daß Andara Ihr Vater ist?«
»Ich weiß es. Und ich weiß auch, daß man ihn drüben in den Staaten den Hexer nannte.«
In seinen Augen blitzte es auf. »Nannte? Wie meinen Sie das?«
Diesmal dauerte es einen Moment, bevor ich antwortete. Es war fast sieben Wochen her, und ich war bisher der Meinung gewesen, darüber hinweg zu sein, aber so ganz stimmte das nicht. Meine Stimme bebte, als ich - ohne ihn anzusehen - antwortete.
»Mein Vater ist... ist tot, Mister Howard. Er starb auf der Überfahrt von den Vereinigten Staaten hierher, und seine letzten Worte waren: Geh zu Howard. Es war nicht leicht, Sie zu finden.«
»Tot?« Howard wirkte erschüttert, »Er ist tot, sagst du?«
Ich nickte. Einen kleinen Moment lang war ich ernsthaft in Versuchung, ihm von meiner Begegnung mit seinem ... ja, was eigentlich? Seinem Geist? zu erzählen, tat es aber dann doch nicht. Jetzt, als alles vorbei war, kam mir die Erinnerung daran immer unwirklicher vor. Und ich wußte von Howard nicht viel mehr als seinen Namen. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, Fremden gegenüber vorsichtig zu sein, und so beließ ich es bei diesem stummen Nicken.
»Wie ... ist er gestorben?« fragte Howard.
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete ich ausweichend. »Und ich weiß nicht, ob -«
»Ob du sie mir erzählen kannst?« Howard lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Du kannst es, Junge. Dein Vater und ich waren mehr als nur Freunde, glaube mir. Ich weiß alles. Alles über Jerusalems Lot, über den Fluch der Hexen und die Big Old Ones.« Er lächelte, als er meinen überraschten Gesichtsausdruck sah. »Hast du dich nie gefragt, woher dein Vater sein Wissen über sie hat, Robert? Das meiste hat er von mir, wenn auch nicht alles.«
»Mister Howard«, stammelte ich. »Ich ...«
»Hör mit diesem albernen ›Mister Howard‹ auf«, unterbrach er mich. »Howard ist mein Vorname. Ich heiße Howard Phillips Lovecraft, und für dich bin ich einfach nur Howard. Und jetzt erzähle von Anfang an. Wir haben viel Zeit.«
Die Kutsche jagte mit halsbrecherischem Tempo durch die menschenleeren Straßen. Vom Bock her drang das Knallen der Peitsche beinahe ununterbrochen herein, untermalt von halblauten, ungeduldigen Rufen, mit denen der Kutscher seine Tiere zu noch größerem Tempo anzufeuern versuchte. Das Gefährt schwankte wie ein Boot auf stürmischer See, und die kaum gefederten Achsen gaben die Stöße und Knüffe der schlaglochübersäten Straße beinahe ungemildert an den Fahrgastraum weiter, so daß Andrew fast Mühe hatte, sich auf der schmalen Sitzbank aufrecht zu halten. »Alles in Ordnung?« fragte sein Gegenüber. Andrew nickte instinktiv. Er hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, seinen geheimnisvollen Retter näher in Augenschein zu nehmen oder sich auch nur bei ihm zu bedanken. Es war dunkel in der Kutsche; die schwarzen Vorhänge vor den beiden Fenstern waren zugezogen, und nur durch die kleine Luke, durch die man dem Fahrer Anweisungen zurufen konnte, sickerte noch etwas Licht in den Innenraum.
Trotzdem war Andrew sicher, einer Frau gegenüberzusitzen, schon bevor er ihre Stimme hörte.
Ihre Gestalt wurde vollends von einem schwarzen, in einer übermäßig groß erscheinenden Kapuze endenden Mantel verhüllt, aber sie war zu schmal und zu zierlich, und etwas an ihrer Haltung verriet ihm, daß es kein Mann war.
»Es ... geht«, antwortete er stockend. Er versuchte zu lächeln, aber es wurde eher eine Grimasse daraus. »Das war Rettung in letzter Sekunde. Wenn Ihr Kutscher nicht gekommen wäre, Missis ...«
»Terry«, half seine Retterin aus, als er nicht weitersprach. »Nennen Sie mich einfach Terry. Das tun alle.« Sie lachte. Ihre Stimme war sehr hell.
»Terry«, nickte Andrew. »Ich ... ich danke Ihnen, Terry.«
»Das war doch selbstverständlich.« Sie blickte ihn einen Moment unter ihrer Kapuze heraus an, setzte sich dann auf und schlug sie mit einer raschen Bewegung zurück.
Andrew unterdrückte im letzten Moment einen erstaunten Ausruf. Er hatte geahnt, daß sie jung war, und irgend etwas hatte ihm gesagt, daß sie schön sein würde, aber er hatte nicht geahnt, daß sie so jung war. Und so schön.
Für einen Moment war er unfähig zu sprechen oder irgend etwas anderes zu tun, als einfach dazusitzen und sie anzustarren. Sie war klein, so schlank, daß sie schon als zierlich gelten konnte, und hatte ein schmales, fast aristokratisch geschnittenes Gesicht, dem aber trotzdem ein schwer zu beschreibender Ausdruck von Natürlichkeit anhaftete. Ihr Haar war lang und glatt und fiel bis weit über die Schultern herab. Ein voller, sinnlicher Mund unter einer schmalen Nase, eingerahmt von zwei Grübchen, die ihr etwas beinahe Spitzbübisches gaben, und Augen ...