Sarcin fuhr mit einer übertrieben heftigen Bewegung hoch und blinzelte einen Moment verwirrt in seine Richtung, ehe er ihn erkannte. Ein schuldbewußter Ausdruck schimmerte durch sein Lächeln.
Mortenson lächelte zurück, ließ sich mit einem hörbaren Seufzen in den unbequemen Stuhl neben dem Steuer fallen und sog an seiner Zigarre. Ihre Glut spiegelte sich wie ein kleines, rotes Auge in der Scheibe.
»Gibt's was Besonderes draußen?« fragte Sarcin nach einer Weile.
Mortenson schüttelte den Kopf und blies eine Rauchwolke gegen die Scheibe. Sarcin hustete demonstrativ, aber Mortenson ignorierte die Anspielung. »Nichts«, sagte er. »Nur Nebel. Alle Verbrecher scheinen tief und fest zu schlafen.«
Sarcin reckte sich, setzte sich umständlich gerade auf und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Seine blonden Haare waren zerstrubbelt und verrieten - ebenso wie die zerknautschte blaue Uniformjacke, die um seine Schultern hing -, womit er sich die halbe Stunde, in der Mortenson auf dem Deck gewesen war, vertrieben hatte. Aber Mortenson konnte es ihm nicht übelnehmen; nicht wirklich. Es gab kaum etwas Langweiligeres als eine Nachtwache auf dem Fluß. Auch Mortenson hatte sich seinen Beruf etwas anders vorgestellt, als er vor nunmehr fast fünfzehn Jahren zur Londoner Hafenpolizei gegangen war.
»Manchmal«, sagte Sarcin und gähnte erneut - diesmal, ohne sich die Mühe zu machen, die Hand vor den Mund zu nehmen - »frage ich mich, ob wir den richtigen Beruf haben. Wir schlagen uns hier die Nächte um die Ohren und sterben vor Langeweile, und die Gangster, die wir eigentlich fangen sollen, liegen zu Hause in ihren Betten und schnarchen.«
»Nur die Gangster?« Mortenson zog spöttisch eine Augenbraue hoch und sah seinen jüngeren Kollegen durchdringend an. Sarcins Lächeln wirkte plötzlich etwas gequält.
»Nun ja«, sagte er. »Ich -«
Mortenson winkte ab. »Schon gut, Junge«, sagte er gutmütig. »Ist ja nicht weiter schlimm, solange einer von uns wach ist. Und ich glaube auch nicht, daß irgendwas passiert. Bei diesem Nebel trauen sich ohnehin nur Verrückte auf den Fluß.«
Sarcin lächelte, unterdrückte ein neuerliches Gähnen und setzte zu einer Antwort an. Aber dann sagte er nichts, sondern setzte sich kerzengerade auf und blinzelte an Mortenson vorbei auf den Fluß hinaus. »So wie der da?« fragte er.
Mortenson starrte ihn einen Moment lang an, drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte aus dem Fenster. Hinter dem Nebel zeichnete sich der Umriß von etwas Großem, Dunklem ab, das gemächlich in dreißig, vielleicht vierzig Yards Entfernung den Fluß hinaufglitt. Irgend etwas an diesem Schatten war seltsam, fand Mortenson. Die treibenden grauen Schwaden verhinderten, daß er ihn deutlich erkennen konnte, aber er sah ... nun, seltsam aus. Eigentlich gar nicht wie ein Schiff.
Sarcin schien die gleichen Überlegungen anzustellen. Zögernd stand er auf, trat dicht an die Scheibe heran und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. »Was ist denn das für ein komisches Ding?« murmelte er. »Ein Schiff? Das ist doch kein Schiff.«
Mortenson zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, sagte er. »Sehen wir es uns an.«
Sarcin wandte den Blick. »Bis wir Fahrt aufgenommen haben, ist der Kerl längst im Kanal«, sagte er.
Mortenson nickte unwillig. Das Schiff dümpelte mit erkaltetem Dampfkessel am Ufer. Sie würden eine halbe Stunde brauchen, um den Heizer zu wecken, der zusammengerollt vor seinem Kohlehaufen schnarchte, und genug Druck auf den Kessel zu bekommen. Die neuen Dampfmaschinen, mit denen die Londoner Hafenpolizei ihre Boote vor einigen Jahren ausgerüstet hatte, hatten auch gewisse Nachteile.
»Bleib hier«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Ich sehe mir den Kerl mal ein bißchen näher an.« Er verließ das Ruderhaus, eilte mit gesenktem Kopf nach vorne und öffnete die Klappe des großen Scheinwerfers, der den Bug des Patrouillenbootes zierte. Seine Streichhölzer waren in der nebeldurchtränkten Luft feucht geworden und brannten nicht gut. Er brauchte fast eine Minute, um den Docht in Brand zu setzen und die Klappe wieder zu schließen. Mit klammen Fingern drehte er am Stellrad. Aus dem flackernden gelben Licht hinter dem Reflektor wurde ein weißes, fast schmerzhaft helles Glühen, als sich das Ventil öffnete und die Flamme in den Karbiddämpfen neue Nahrung fand.
Mortenson blinzelte. Der grellweiße, mannsdicke Strahl des Scheinwerfers stach wie ein Speer aus Licht in den Nebel hinaus. Im ersten Moment sah er fast weniger als zuvor, als die grauen Schwaden den Schein reflektierten, dann streifte der weiße Strahl etwas Dunkles, Massiges, glitt weiter und verharrte, als Mortenson den schweren Scheinwerfer mit einem Ruck anhielt.
Seltsamerweise war es vollkommen still. Er hörte nichts als das gedämpfte Plätschern und Rauschen des Flusses. Kein Motorenlärm, kein Rudergeräusch - nichts. Einen Moment lang überlegte er, ob das Schiff dort draußen - wenn es überhaupt ein Schiff war - vielleicht ein Segler sein mochte, dessen Kapitän schwachsinnig genug war, sich trotz der miserablen Sicht den Launen des Windes und der Strömung anzuvertrauen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder.
Langsam schwenkte er den Scheinwerfer zurück. Der kalkweiße Strahl traf auf etwas Dunkles.
Mortenson starrte ungläubig zu dem riesigen schwarzen Ding hinüber, von dem der Scheinwerferkegel nur einen kleinen Ausschnitt aus der grauen Dämmerung riß. Das Licht tastete über eine gebogene, von armdicken knorpeligen Strängen durchzogene Flanke, über schwarzes Horn und glitzernde, handgroße Schuppen ...
»Aber das ist doch unmöglich ...«, flüsterte er. »Das, das gibt es doch nicht ...« Seine Hände begannen zu zittern. Die Bewegung übertrug sich auf den Scheinwerfer; der Lichtkegel wanderte nach oben aus, verlor den Schatten einen Moment und rutschte mit einem Ruck wieder nach unten. Mortensons Herz begann wie ein Hammerwerk zu schlagen. Für einen Moment vergaß er sogar zu atmen, während der Strahl langsam am Körper des unmöglichen Dinges entlangwanderte. Ein grotesk langer, mannsdicker Schlangenhals tauchte im Zentrum des grellweißen Kegels auf, dann tastete der Strahl über einen gewaltigen, horngepanzerten Schädel.
Mortensons Schreckensschrei ging in einem urgewaltigen Brüllen unter. Der Schädel des Giganten ruckte in einer wütenden Bewegung herum. Ein zweiter, gepeinigter Schrei zerriß die Stille, als das weiße Licht schmerzhaft in seine kleinen, lidlosen Augen stach. Das Ungeheuer bäumte sich auf. Wasser schäumte hoch, und das Patrouillenboot erbebte wie unter dem Faustschlag eines Riesen, als es von der Flutwelle getroffen wurde.
Die Erschütterung riß Mortenson von den Füßen. Er fiel, schrammte mit der Stirn über die Kante des Scheinwerfers und blieb sekundenlang benommen liegen. Wie durch einen dämpfenden Schleier hindurch hörte er, wie Sarcin die Tür des Ruderhauses aufriß und irgend etwas schrie, das er nicht verstand.
Als er sich wieder aufrichtete, hatte sich das Ungeheuer gedreht und Kurs auf das Boot genommen. Mortenson erstarrte. Irgend etwas in ihm schien sich zusammenzuziehen, schmerzhaft wie eine Stahlfeder, die bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit niedergedrückt wurde, aber er war unfähig, sich zu rühren oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Unmöglich, dachte er. Immer und immer wieder. Unmöglich! Seine Finger klammerten sich so fest an die Reling, daß seine Nägel brachen und zu bluten begannen. Er merkte es nicht einmal.
Das Ungeheuer stampfte wie ein angreifendes Kriegsschiff heran. Es war so groß wie das Patrouillenboot, vielleicht größer, und sein gewaltiger Schädel pendelte noch ein gutes Stück über der Höhe des Schornsteines. Es hatte aufgehört zu brüllen, nachdem das grelle Licht seine Augen nicht mehr peinigte, aber seine Wut war keineswegs gedämpft.